Obwalden: «Wo sind wir hier eigentlich?»
Standortattraktivität nur für reiche Familien? Im Kanton Obwalden kommt es zum Showdown im Kampf um eine soziale Gestaltung der schulergänzenden Kinderbetreuung.
«Das kann doch nicht wahr sein! Da habe ich einen verantwortungsvollen Job als Sachbearbeiterin – und muss mir trotzdem den Kopf darüber zerbrechen, wie ich und mein Kind weiterhin ohne Sozialhilfe über die Runden kommen sollen.»
Sonia Meier* ist perplex. Vor vier Jahren ist sie mit ihrem damals knapp zweijährigen Kind in den Kanton Obwalden gezogen – im Sinne auch ihres Arbeitgebers. «Zunächst hatte ich ein gutes Gefühl: eine gute Siebzigprozentstelle, eine zahlbare Wohnung. Und eine Kita, in der mein Kind drei Tage in der Woche gut betreut wird, sodass ich auch als Alleinerziehende weiterhin arbeiten konnte.»
Weil ihr Kind diesen Sommer in den Kindergarten kommt, wollte Meier Ende 2016 einen Platz in einem Hort für Kinder ab diesem Alter reservieren. Dabei stiess sie auf die Kits, die Kindertagesstätte für Schulkinder Sarnen: «Als ich die Preisliste studierte, erschrak ich: Für drei Tage in der Woche müsste ich über 800 Franken pro Monat zahlen – siebzig Franken pro Tag.» Für die bisherige Kita zahlt Meier dank Sozialtarif für drei Tage in der Woche gut 150 Franken im Monat.
Reiche anlocken, Arme vertreiben
Inzwischen weiss Meier, dass sie in einem Kanton gelandet ist, in dem «Vereinbarkeit von Beruf und Familie» noch immer wie ein Fremdwort klingt. Zwar gibt es inzwischen in fast jeder Gemeinde zumindest eine Kita für Kinder im Vorschulalter sowie eine Mittagsbetreuung für Schulkinder. Tagesstätten für Kinder ab dem Kindergartenalter aber existieren nur in Sarnen, Alpnach und Kerns – für wenig bis normal verdienende Eltern sind sie aber kaum bezahlbar. Fazit: In Obwalden ist eine durchschnittlich verdienende alleinerziehende Mutter dazu gezwungen, ihren Job zu reduzieren oder aufzugeben, aufs Sozialamt zu gehen – oder in einen fortschrittlicheren Kanton zu ziehen.
Obwalden. Ausgerechnet dieser Kanton also, der sich «Standortattraktivität» auf die Fahnen geschrieben hat. Der mit der 2009 eingeführten Flatrate-Steuer, einem einkommensunabhängigen Einheitssteuersatz, reiche NeuzuzügerInnen gewinnen konnte. In einem Kanton mit nur 36 000 EinwohnerInnen schenkt das ein – so viel, dass Finanzdirektorin Maya Büchi (FDP) Ende November 2016 die Prognose wagte, dass der Kanton «in etwa zwei Jahren» im nationalen Finanzausgleichskonzert vom Nehmer- zum Geberkanton mutieren könnte.
Statt dass nun aber auch weniger gut Verdienende von den zusätzlichen Steuereinnahmen profitieren würden, müssen sich Menschen wie Sonia Meier überlegen, ob sie sich das Leben im Kanton überhaupt noch leisten können. Zumal im Bericht «Wohnen und Armut» der Caritas zur Situation in Obwalden aus dem Jahr 2014 zu lesen ist, dass die tiefen Steuern «die Mietpreise in die Höhe getrieben haben», sodass «Personen mit geringen finanziellen Mitteln aus den betroffenen Regionen verdrängt» werden.
Verkehrte Welt
Montagnachmittag, kurz nach 15 Uhr. Etwas versteckt im ersten Stock eines Geschäftshauses mitten in Sarnen befindet sich die Kits. An diesem Nachmittag sind nur wenige Kinder anwesend. Insgesamt kommen derzeit rund zwanzig in die Kits: «Mehr als zehn Kinder auf einmal sind selten hier», sagt Laura Birve, die Kogeschäftsleiterin. «Und ja: Bislang sind fast nur Kinder von gut verdienenden Eltern bei uns. Ohne Sozialtarife können sich weniger gut Verdienende das Angebot kaum leisten.»
Laura Birve spricht aus Erfahrung. Sie selbst ist Mutter von zwei Kindern, das dritte ist unterwegs. Dass seit zwei Jahren in Sarnen überhaupt eine professionelle Tagesstätte für Kindergarten- und Schulkinder besteht, ist der Eigeninitiative von ihr und weiteren Müttern zu verdanken. In der Aufbauphase bis zur Eröffnung im April 2015 arbeiteten alle Mitarbeiterinnen gratis. Dank einer Anschubfinanzierung durch den Bund und die Gemeinde sowie Unterstützungsbeiträgen von Pro Juventute, Jeunesse Suisse, Kirchen und einigen Firmen ist es inzwischen möglich, den vier Teilzeitangestellten Löhne zu zahlen, die den Bestimmungen des Berufsverbands Kibesuisse entsprechen.
«Schon absurd», sagt Birve: «Mütter oder Väter, die es finanziell nicht nötig hätten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, können ihr Kind in die Kits geben – und die, die einer Erwerbsarbeit nachgehen müssen, nicht.»
Nun aber hat der Kantonsrat im November mit 37 gegen 15 Stimmen eine Vorlage der Regierung gutgeheissen, wonach alle Gemeinden dazu verpflichtet werden sollen, innert drei Jahren zahlbare Betreuungsangebote für Kinder auch ab dem Kindergartenalter zu schaffen. Die Kosten dafür – rund 520 000 Franken im Jahr – sollen in erster Linie durch einkommensabhängige Beiträge der Eltern finanziert werden, der Rest durch den Kanton und die Gemeinden. Nicht schlecht für einen Kanton, der in den letzten Jahren vor allem mit ultrafeudalistischen Ideen aufhorchen liess – wie einer Minimalstbesteuerung für Holdings, einer (letztlich gescheiterten) Sonderbauzone für Superreiche oder einer degressiven Steuerpraxis (je reicher, desto tiefer der Steuersatz), die erst durch ein Bundesgerichtsurteil gestoppt werden konnte.
Ursprünglich wollte die Regierung – wie das bislang erst in den Kantonen Waadt, Neuenburg und Freiburg der Fall ist – auch die Wirtschaft zu einem finanziellen Beitrag an die Kinderbetreuung verpflichten. Begründung: Kinderbetreuungsstrukturen würden helfen, «dem Fachkräftemangel zu begegnen», und wirkten sich «positiv auf das Steuersubstrat» aus.
Das mit der finanziellen Beteiligung der Wirtschaft war der Mehrheit im Obwaldner Kantonsrat dann doch zu viel des Guten. Doch auch ohne dies kann sich die regierungsrätliche Vorlage im schweizerischen Vergleich sehen lassen. Es scheint, als hätte die in Obwalden dominierende CVP den gesamtgesellschaftlichen Nutzen von schulergänzenden Tagesstrukturen mit Sozialtarifen erkannt: höhere Erwerbseinkommen der Eltern, mehr Sozialversicherungsbeiträge, zusätzliche Steuererträge – und weniger Ausgaben in der Sozialhilfe.
Jetzt aber droht Obwalden noch tiefer im 20. Jahrhundert kleben zu bleiben. Die SVP Obwalden hat vor einigen Tagen ein Referendum gegen die schulergänzenden Tagesstrukturen eingereicht. Begründung: Mehrkosten für Kanton und Gemeinden sowie ein «Zwangseingriff» in die Gemeindeautonomie – Kinderbetreuung von 7 bis 18 Uhr sei «keine zwingende Staatsaufgabe».
Sonia Meier fasst sich an den Kopf, als sie die Begründungen der SVP liest. «Gibt es denn in diesem Kanton nur Bilderbuchfamilien? Wo sind wir eigentlich?! Und wo ist da die Chancengleichheit?»
Und der Mittelstand?
Nicole Wildisen fragt sich das schon lange. Die Gymnasiallehrerin und Kopräsidentin der SP Obwalden hat dazu vor vier Jahren im Kantonsrat die Motion eingereicht, die schliesslich zum Gesetzesvorschlag der Regierung geführt hat. Die Mutter von drei erwachsenen Kindern attestiert dem Regierungsrat durchaus guten Willen: «Unser christlichsozialer Bildungsminister Franz Enderli und seine Mitarbeiter sind kompetent und aufgeschlossen.» Im Hinblick auf die Abstimmung über das Referendum der SVP hofft die ehemalige Kantonsrätin, die im Verein Kinderbetreuung Obwalden wie auch im Verein Kits engagiert ist, dass die durch die SVP gesäten Missverständnisse geklärt werden können: «Die Gesetzesänderung würde ja nicht bedeuten, dass auch eine kleine Gemeinde wie Lungern zwingend eine eigene Tagesstätte eröffnen muss – es gibt auch die Möglichkeit von Tagesfamilien.» Auf jeden Fall brauche es eine starke Mobilisierung der StimmbürgerInnen: «Auch mit dem Argument der Standortattraktivität – speziell Neuzuzüger haben ja nicht unbedingt Familienstrukturen, die es ihnen erlauben, ihre Kinder tagsüber bei Verwandten abzugeben.»
Carmen Kiser kann dem nur beipflichten. Die Museologin, die als Geschichtsvermittlerin für das Museum Aargau im Schloss Lenzburg arbeitet, ist in Sarnen aufgewachsen. Nach fünfzehn Jahren in Zürich und Sydney ist sie vor fünf Jahren mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. «Sarnen ist nicht ab der Welt. Das Dorf bietet eine gute kleinstädtische Infrastruktur. Was wirklich noch fehlt, ist ein durch die Gemeinde gesichertes Betreuungsangebot für Schulkinder.»
Kiser und ihr Mann verdienen gut. Sie mit ihrem 45-Prozent-Job sowie Aufträgen als freie Wissenschaftlerin, er mit einer 80-Prozent-Stelle als Informatiker. Guter Mittelstand. Doch jetzt, da bald auch ihr jüngeres Kind in den Kindergarten kommt, geben selbst ihnen die Betreuungskosten für die Kits zu denken. «Natürlich bin ich froh, meine Eltern wieder in unserer Nähe zu haben. Aber ich frage mich, ob eine moderne Gesellschaft von Grosseltern erwarten darf, ihren Ruhestand damit zu verbringen, die Kinder ihrer Töchter und Söhne zu betreuen, damit diese ihrer Erwerbsarbeit nachgehen können.»
Die Frage der schulergänzenden Tagesstrukturen hat Kiser politisiert. Über die IG Kits ist sie in die SP eingetreten. Jetzt engagiert sie sich für ein familienfreundliches Obwalden. Als eine, die einst in die weite Welt gezogen ist, will sie ihrer Heimat auch etwas zurückgeben: «Wenn es dieses Angebot nicht gibt, überlegen sich viele, ob sie überhaupt hierherziehen wollen. Und wir als Doppelverdiener sind schliesslich auch gute Steuerzahler – vor allem dann, wenn unsere Kinder der ausserschulischen Betreuung entwachsen sind.»
Im Mai oder September soll es zur Abstimmung über das Referendum der SVP kommen.
* Name geändert.
Niemand sonst zahlt so viel
Laut einem OECD-Bericht von 2011 ist der Anteil des Einkommens, den Familien in der Schweiz für externe Kinderbetreuung ausgeben, viermal so hoch wie der OECD-Schnitt – höher als in jedem anderen der 35 Mitgliedstaaten.
Gemäss einer aktuellen Studie der Credit Suisse zahlt eine Familie für die Betreuung von zwei Kindern an zwei Tagen pro Woche bis zu 26 000 Franken pro Jahr. Bei Alleinerziehenden machen diese Kosten schnell mal die Hälfte des Einkommens aus. Insgesamt leben Familien mit fremdbetreuten Kindern in den Kantonen Wallis, Jura und Freiburg am günstigsten. Westschweizer Kantone weisen tendenziell höhere Familienzulagen, Subventionen und Betreuungsabzüge auf. In der Westschweiz zahlen Eltern im Schnitt ein Drittel, in der Deutschschweiz zwei Drittel der Vollkosten.