Antiterrorgesetze in der EU: «Angst wird Normalität, Freiheit zur Ausnahme»

Nr. 4 –

Ausnahmezustand, Massenüberwachung, schwammige Gesetze: Europa befinde sich in einem Sicherheitswahn, der die Grundrechte aufs Spiel setze, warnt Amnesty International.

WOZ: Kartik Raj, Sie haben zwei Jahre lang für Amnesty International die Antiterrormassnahmen in vierzehn EU-Mitgliedsländern analysiert. Der nun veröffentlichte Bericht beschreibt die aktuellen Entwicklungen als «orwellsch». Warum?
Kartik Raj: In seinem Roman «1984» schreibt George Orwell von Gedankenverbrechen – man kann verurteilt werden, ohne eine Straftat begangen zu haben. Die aktuellen Antiterrormassnahmen konzentrieren sich immer stärker auf Prävention. Gerade Paragrafen wie «Rechtfertigung des Terrorismus» in Frankreich oder «Terrorismusverherrlichung» in Spanien erinnern dabei an Orwells Gedankenverbrechen. Die Gesetze beschneiden die Meinungs- und die Bewegungsfreiheit. Erst letzte Woche wurde in Spanien ein Musiker wegen eines Witzes auf Twitter zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Sie warnen auch davor, dass insbesondere Aktivisten, Muslime, Geflüchtete und andere Angehörige von Minderheiten häufig ins Visier der neuen gesetzlichen Befugnisse geraten. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
«Rechtfertigung des Terrorismus» oder «Gefahr für die Nation» – die genaue Definition dieser Begriffe bleibt extrem vage und unspezifisch. Das führt dazu, dass Antiterrormassnahmen und Notstandsgesetze missbraucht werden können – wie etwa beim Klimagipfel in Frankreich gegen Demonstranten und Aktivisten. Ähnliche Fälle gab es auch in Spanien.

Inwiefern trifft dies Geflüchtete?
Oftmals wird jemand aufgrund von Stereotypen oder bestimmten Persönlichkeitsprofilen diskriminiert – wenn Personen etwa wegen ihres Aussehens der Zutritt ins Flugzeug verwehrt wird. In Ungarn zeigt sich derweil deutlich, wie Geflüchtete pauschal zu Verdächtigen gemacht werden: «Alle Terroristen sind letztlich Migranten», hat Ministerpräsident Viktor Orban gesagt. Diese Diskriminierungen gelten nun gemeinhin als zumutbar.

Sie schreiben von einem «gefährlichen und permanenten Sicherheitswahn» seit 2014. Welche Massnahmen beunruhigen Sie am meisten?
Die Notstandsgesetze. Frankreich hat den Ausnahmezustand inzwischen fünf Mal verlängert. Dabei wäre es das Wichtigste, sicherzustellen, dass solche Massnahmen nur vorübergehend verhängt werden können. Sie müssen verhältnismässig und nötig sein.

Frankreich ist aber das einzige EU-Land, das derzeit den Ausnahmezustand verhängt hat. Warum halten Sie dies auch im gesamteuropäischen Kontext für besorgniserregend?
Polen, Ungarn und Luxemburg haben neue Gesetze verabschiedet, die es einfacher machen, den Ausnahmezustand auszurufen. Oder aber sie haben eigentliche Notstandsgesetze direkt in der Gesetzgebung verankert. Auch in Bulgarien sind derartige Änderungen geplant. Das ist gefährlich. Der Ausnahmezustand wird die Regel. Angst wird Normalität, Freiheit hingegen zur Ausnahme.

Laut Ihrer Studie ist dieser Trend auch dort zu beobachten, wo es bislang noch keine dschihadistischen Attentate gab. Warum?
Viele EU-Länder versuchen derzeit, eine Verbindung zwischen der Ankunft von Flüchtlingen und der Bedrohung durch Terrorismus herzustellen. In Österreich zeigt sich das zum Beispiel bei der im April verabschiedeten Notverordnung, die der Polizei zahlreiche zusätzliche Kompetenzen einräumt. Wird sie aktiviert, kann die Polizei – ohne entsprechende Qualifikation – künftig an der Grenze selbst entscheiden, wer Asyl beantragen darf und wer nicht. Das bedroht das Menschenrecht auf Asyl.

Auch in der Schweiz arbeitet der Bund zurzeit an einem neuen Gesetzesentwurf, der jede Form von Terrorunterstützung strafbar machen würde, auch Propaganda. Geldstrafen gäbe es dabei nicht mehr, für «besonders einflussreiche» Täter fiele die Obergrenze von zwanzig Jahren für eine Gefängnisstrafe weg.
Wir haben die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied in der Studie ausser Acht gelassen. Aber letztes Jahr wurde ja mit dem Nachrichtendienstgesetz eine neue Massnahme zur Massenüberwachung verabschiedet. Den Überwachungsstaat auszubauen, gehört demnach ebenso zum aktuellen Trend.

Kartik Raj ist Analytiker bei Amnesty International UK und Mitautor der Studie «Gefährlicher Sicherheitswahn. Antiterrorgesetze untergraben die Grundrechte in Europa».