Präkriminalität: «Sind wir nicht alle potenziell gefährlich?»

Nr. 48 –

Präventivmassnahmen gegen sogenannte GefährderInnen und das neue Antiterrorstrafrecht: Warum die beiden Vorlagen laut Rechtsanwalt Viktor Györffy den Rechtsstaat gefährden und wie sie in Zukunft gegen KlimaaktivistInnen angewendet werden könnten.

Viktor Györffy, Anwalt

WOZ: Herr Györffy, der Ständerat berät in dieser Session über die polizeilich-präventiven Massnahmen PMT, die künftig gegen sogenannte Gefährder ergriffen werden sollen. Wie blicken Sie der Debatte entgegen?
Viktor Györffy: Die geplanten Massnahmen gehen derart weit, und ihre Kriterien sind so schwammig – in der Praxis wird man ihnen komplett ausgeliefert sein.

Die Massnahmen reichen von polizeilicher Meldepflicht über Kontaktverbote bis hin zu Hausarrest. Was ist denn ein sogenannter Gefährder oder eine Gefährderin aus juristischer Sicht?
Mit dem Ausdruck «Gefährder» wird ein Begriff geschaffen, den man praktisch beliebig konstruieren und verwenden kann. Denn: Sind wir nicht alle potenziell gefährlich? Der Begriff ist so schwammig und inhaltsleer, dass er zur Tautologie wird. Ein Gefährder ist jemand, den man für einen Gefährder hält. Es gibt in der Definition nichts Handfestes, keinen konkreten Tatverdacht und auch keine Rückfallgefahr. Denn die entsprechende Person hat ja noch gar nichts getan; es geht darum, dass sie womöglich in Zukunft etwas tun könnte.

Wie werden die Schweizer Behörden künftig solche Personen ausfindig machen?
Sie werden dafür wohl die Lebensrealität, das Umfeld, die Weltanschauung und Meinungsäusserungen der Menschen heranziehen. Da die verdächtigte Person ja noch nichts getan hat, werden solche Äusserlichkeiten das Einzige sein, was sich überhaupt bewerten lässt. Das Feld der Interpretation ist sehr weit, was man ausnutzen wird, um Gefährder zu konstruieren.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat klargestellt, dass die PMT nicht nur auf den Islamismus, sondern auch auf den Links- und den Rechtsextremismus abzielen.
Man wird sowohl bei den PMT als auch beim geplanten Antiterrorstrafgesetz schauen müssen, was die Praxis daraus macht. Aber beide Instrumente würden sich sehr gut dazu eignen, gegen politische Betätigungen vorzugehen. Es könnte ein Rechter ins Visier kommen, der Sprüche klopft und rechte Sympathien hegt, aber nichts Gefährliches vorhat. Es könnte aber auch eine Linke treffen, die eine Fundamentalkritik am Kapitalismus oder an den mangelhaften Massnahmen gegen die Klimakrise übt. Möglich, dass solche Positionen dann künftig unter antikapitalistischem oder ökologischem Terror laufen.

Was hiesse das konkret?
Die Behörden würden dann wohl argumentieren, dass sich die entsprechende Person in gewissen Kreisen bewegt oder mit ihnen sympathisiert; dass sie sich auf Facebook dieses Video angeschaut, jenen Post geliked oder sich zu einem bestimmten Thema geäussert hat. Hier sehe ich die grösste Gefahr bei den Massnahmen. In der Vergangenheit blieb man für so etwas in der Regel unbehelligt, künftig könnte man voll in die Mühlen der Justiz geraten. Damit können Existenzen vernichtet werden. Die neuen Gesetze könnten letztlich dazu führen, dass junge Menschen, die womöglich nur vorübergehend in bestimmten Kreisen verkehren, für den Rest ihres Lebens das Terrorismusetikett umgehängt bekommen.

Die sicherheitspolitische Kommission des Ständerats schreibt, der Rechtsstaat bleibe gewahrt, weil die betroffene Person die Massnahmen anfechten könne.
Die überprüfenden Instanzen werden solche Massnahmen nicht unbedingt eindämmen. Steht einmal eine potenzielle Gefahr im Raum, werden sich die Behörden eher gegenseitig vergewissern, dass die Gefahr bestehe und die angeordnete Massnahme notwendig sei. Eine kritische Hinterfragung ist eher unwahrscheinlich. Erstens, weil man eine potenzielle Gefahr nicht widerlegen kann. Das Gericht kann ja nicht wissen, ob eine Person wirklich gefährlich ist, es kann nur überprüfen, ob das Fedpol eine Massnahme so begründet, dass eine entsprechende Gefährdung vorliegen könnte. Zweitens, weil die Behörden unter Druck geraten: Falls eine Behörde zum Schluss kommt, dass keine Gefahr besteht, und dann trotzdem etwas passiert, wird die Öffentlichkeit dieser Behörde die Verantwortung in die Schuhe schieben. Liegt eine solche Gefährderakte bei Ihnen auf dem Tisch, werden auch Sie dazu tendieren, eine Gefahr zu sehen.

Was heisst das für die Unschuldsvermutung, die eigentlich ein Grundpfeiler des Strafrechts ist?
Sie wird ausgehebelt. Sie können Ihre eigene Ungefährlichkeit nicht beweisen. Sind Sie einmal mit einem solchen Vorwurf konfrontiert, werden Sie dieses Stigma kaum mehr los. Wenn polizeilich-präventive Massnahmen gegen Sie ergriffen werden, können Sie nicht beweisen, dass Sie auch ohne diese Verfügungen nichts Gefährliches tun würden. Das ist schlichtweg unmöglich.

Die zweite Vorlage des Antiterrorpakets sieht eine Verschärfung des Strafrechts vor. Zum ersten Mal soll ein sogenannter Terrorismusartikel eingeführt werden.
Bislang hat die Justiz versucht, Fälle von Terrorismus unter anderem mit dem Straftatbestand organisierte Kriminalität oder als strafbare Vorbereitungshandlungen zu verfolgen. Dass sich die Schweiz nun dem internationalen Trend anschliesst, Terrorismus an sich unter Strafe zu stellen, und das mit einem sehr weit gefassten Terrorismusbegriff, ist eine Neuheit.

Wie will die Schweiz Terrorismus definieren?
Das bisherige Bundesgesetz, das den IS und al-Kaida verbietet, soll nun ins normale Strafrecht überführt und generalisiert werden. Der Terrorismusartikel bringt mehrere Probleme mit sich. Das erste grosse Problem ist: Welche Organisationen qualifiziert man denn als terroristisch? Was für den einen ein Freiheitskämpfer ist, ist für den anderen ein Terrorist. Das zweite grosse Problem am geplanten Gesetz ist, dass nicht nur das Begehen eines terroristischen Aktes strafbar wird, sondern ganz viel rundherum, etwa vorbereitende und unterstützende Handlungen. Dies ist jedoch ziemlich vage definiert, damit können auch sehr banale Handlungen kriminalisiert werden. Wenn man sich etwa beruflich mit bestimmten Ländern oder Leuten aus einer bestimmten Diaspora auseinandersetzt oder selbst eine bestimmte Herkunft hat, könnte man sehr schnell von diesen Bestimmungen betroffen sein.

Passt sich die Schweiz nun den EU-Ländern an, die bereits solche Antiterrorgesetze haben?
Jein. Bei den polizeilich-präventiven Massnahmen übernimmt die Schweiz zwar einiges aus dem Ausland. Aber nur gewisse Länder kennen überhaupt solche Massnahmen. Und diese haben vielleicht eine Meldepflicht, andere Massnahmen – etwa Hausarrest – hingegen nicht. Beim Antiterrorstrafrecht setzt die Schweiz das Europaratsabkommen zur Verhütung von Terrorismus um. Aber die Schweiz hätte das Übereinkommen, wenn schon, sehr viel begrenzter umsetzen können – und müssen. Jetzt tut sie das Gegenteil und formuliert sehr ausgedehnt, was neu alles unter Strafe gestellt wird.

Ob in Spanien, Frankreich, Grossbritannien oder Deutschland: Die Verschärfung der Antiterrorgesetze scheint ein länderübergreifender Trend zu sein.
Ja. Dabei gibt es kaum eine Diskussion über die Gesamtdimension: Neue Überwachungstechnologien, erweiterte Befugnisse für den Geheimdienst, ausgeweitete Gesetze – was kommt da alles zusammen? Welche Grundrechte werden eingeschränkt, welche verletzt? Wo wird unsere Freiheit bedroht? Der Bewegungsspielraum der Menschen, in dem sie ihre Grundrechte ausüben können, wird immer kleiner. Es ist unglaublich, was der Geheimdienst alles registriert. Für die Leute wird es schwieriger, ihre politischen Rechte auszuüben. Wir leben auch in der Schweiz in einem «shrinking democratic space».

In einem schrumpfenden demokratischen Raum?
Ja. Natürlich ist das an Orten wie Hongkong viel krasser der Fall. Das Ausmass ist in der Schweiz kleiner. Dennoch sind wir auch hier mit einem staatlichen Apparat mit präventiven und repressiven Möglichkeiten konfrontiert, der den Spielraum zur politischen Betätigung ebenfalls einschränkt. Ein Beispiel sind die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die sich Mitte Juli am Zürcher Paradeplatz bei einer Grossbank angekettet hatten. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft sind daraufhin genau gleich eingefahren wie beispielsweise nach Krawallen.

Die Polizei hat alle Aktivisten und Aktivistinnen verhaftet, ihnen DNA-Proben abgenommen und teils sogar Untersuchungshaft verhängt. Die Repression hat sich demnach in den letzten Jahren verschärft?
Eindeutig. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Zustände, die wir vor einigen Jahren noch als jenseitig empfunden hätten, plötzlich als normal wahrnehmen. Im Vergleich zu vor zwanzig, dreissig Jahren ist der Sicherheitsapparat heute stärker ausgebaut. Dabei wurden nicht nur die Gesetze verschärft, sondern auch die Praxis der Strafverfolgungsbehörden. Der Polizeieinsatz gegen die Klimaaktivisten folgte einer neuen, härteren Praxis von Polizei und Staatsanwaltschaft. Sie fahren systematischer und härter ein, setzen viel schneller auf Untersuchungshaft und DNA-Abnahmen.

Sie reden von der sogenannten Krawallgruppe der Zürcher Staatsanwaltschaft.
Ja. Früher gingen die Strafverfolgungsbehörden so vor, wenn es mal «chlöpfte». Inzwischen kommt eine spezialisierte Staatsanwaltschaft selbst dann zum Zug, wenn es sich um eine Aktion handelt, wie sie Greenpeace seit Jahrzehnten macht. Das leuchtet mir überhaupt nicht ein. Das ist nur ein Beispiel, aber es zeigt den Mechanismus.

Kritische Stimmen gegen den Law-and-Order-Trend sind derzeit nur leise zu vernehmen. Wie gross sind die Chancen, dass die polizeilich-präventiven Massnahmen im Parlament abgelehnt werden?
Es herrscht ein Sicherheitsdiskurs, der alle anderen Argumente erstickt und von vielen nicht mehr hinterfragt wird. Viele haben wohl das Gefühl, der Staat müsse um jeden Preis für mehr Sicherheit sorgen. Dann erscheinen plötzlich immer mehr Massnahmen, die weiter gehen als notwendig. Aber es gibt schon einige Organisationen und Gruppen, die Kritik daran üben.

Viktor Györffy (51) ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Grundrechte, Datenschutz und Strafrecht. Györffy ist Mitglied der Zürcher Grünen und Präsident des Vereins grundrechte.ch (vgl. «Muss der Geheimdienst abgeschafft werden?» ).

Geplante Antiterrorgesetze

Am Montag in einer Woche berät der Ständerat zwei Vorlagen zur Schweizer Antiterrorstrategie. Die eine Vorlage ist das Bundesgesetz über «polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus» (PMT), das präventive Massnahmen, etwa eine Meldepflicht, gegen «terroristische Gefährder» vorsieht.

Die zweite Vorlage beabsichtigt eine Verschärfung des Strafrechts. Künftig soll etwa die «Unterstützung» einer «terroristischen Organisation in ihrer Tätigkeit» mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden.