Antiterrorgesetze in der Schweiz: «Die Leute verlieren die Realität aus den Augen»

Nr. 8 –

Das Parlament wird dieses Jahr über ein Massnahmenpaket zur Terrorismusbekämpfung beraten. Die Strafrechtsprofessorin Ursula Cassani, die an der Universität Genf lehrt, warnt vor den geplanten Verschärfungen.

WOZ: Frau Cassani, das Parlament wird dieses Jahr über Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung beraten – auch über eine deutliche Verschärfung des Strafrechts (vgl. «Überwachung, Fichen und Fussfesseln» im Anschluss an diesen Text). Braucht die Schweiz diese neuen Gesetze?
Ursula Cassani: Wir haben diverse internationale Übereinkommen wie das Terrorismusfinanzierungsgesetz ratifiziert und umgesetzt. Der Artikel 260ter im Strafgesetzbuch stellt die Mitwirkung an und die Unterstützung von terroristischen Organisationen bereits heute unter Strafe. Der neue Gesetzesentwurf will ein Übereinkommen des Europarats umsetzen, schiesst dabei aber eindeutig über das Ziel hinaus.

Sie haben während der Vernehmlassungsfrist eine kritische Stellungnahme eingereicht. Was ist aus Ihrer Sicht problematisch?
Man will den bestehenden Artikel 260ter wesentlich ausweiten. Damit rückt man immer weiter von eigentlichen Straftaten weg – von tatsächlichen Verletzungen von Rechtsgütern hin zu Gefährdungstatbeständen. Bis jetzt war es nach diesem Artikel so: Entweder eine Person war Mitglied der kriminellen Organisation oder hat die Organisation in «ihrer kriminellen Tätigkeit» unterstützt. Wer eine konkrete Straftat begangen hat, wird ohnehin wegen dieser Tat belangt. Wenn eine Person etwa als Teil einer Organisation mit Drogen handelt, dann wird sie wegen Drogenhandel bestraft. Der Artikel 260ter kommt dann zum Zuge, wenn eben gerade nicht nachgewiesen werden kann, dass jemand eine konkrete Straftat begangen hat. Das mag insofern noch einleuchten, als diese Person Mitglied einer solchen Organisation ist. Aber die Kriminalisierung der Unterstützung geht abermals einen Schritt weiter – und da wird es dann heikel.

Eben diese «Unterstützung einer Organisation in ihrer verbrecherischen Tätigkeit» soll nun neu formuliert werden …
Das Wort «verbrecherisch» soll gestrichen werden. Es würde dann im Gesetz nur noch heissen: wer «eine Organisation in ihrer Tätigkeit unterstützt». Aber wenn die Tätigkeit an sich gar nicht mehr kriminell sein muss, dann kann dies alles Mögliche sein: eine Putzfrau etwa, die die Räumlichkeiten der Organisation putzt. Auch humanitäre Organisationen könnten in ihrer Arbeit behindert werden, wenn sie zum Beispiel Mitglieder von als terroristisch betrachteten Organisationen im Gefängnis besuchen. Auch das könnte als Unterstützung gewertet werden.

Die Tätigkeit wäre damit grundsätzlich gar keine verbotene Handlung, sondern nur eine, die in Zusammenhang mit der Organisation vollzogen wird?
Ja. Den einzigen Bezug zu einer Straftat, den dieser Artikel bis anhin hatte, war die Unterstützung einer «verbrecherischen» Tätigkeit. Mit der neuen Formulierung wäre jeder Bezug zu einer Straftat abgeschnitten. Damit dringt man immer weiter ins Vorfeld einer möglichen Tat vor und schränkt bürgerliche Freiheiten ein. Wir möchten doch in einer Gesellschaft leben, in der der Bürger Freiheiten hat und nur dann bestraft wird, wenn er wirklich etwas getan hat, das als Straftat gewertet werden kann. Und umgekehrt wollen wir doch nicht, dass man immer mehr Straftaten bastelt, die im Vorfeld einer eigentlichen Rechtsgutverletzung liegen und Menschen erfassen, die überhaupt keinen kausalen Beitrag dazu geleistet haben.

Diese Verschiebung ins Vorfeld, immer weiter hin zur Prävention, scheint derzeit im Trend zu liegen.
Der Artikel 260ter wurde 1994 ins Strafgesetzbuch eingeführt. Man zielte dabei hauptsächlich auf mafiöse Organisationen ab, wenn auch terroristische Organisationen mitgemeint waren. Damals wurde stets beteuert, dass man es nicht übertreiben und die demokratischen Freiheiten schützen werde. Man wolle kein Gesinnungsstrafrecht, Sympathisanten zum Beispiel dürften nicht erfasst werden. Jetzt aber soll das Gesetz in einem Rutsch wesentlich ausgeweitet werden. Damit bewegt man sich immer weiter in das Vorfeld: Es geht gar nicht mehr um eine eigentliche Straftat, die tatsächlich begangen wurde – noch nicht einmal um den Versuch einer Straftat. Sondern es geht um die Vorbereitungshandlung eines Versuchs – oder noch nicht mal darum.

Warum hat sich seit 1994 das gesellschaftliche Klima derart verändert, dass das Gesetz heute durchgewinkt werden könnte?
Die Attentate vom 11.  September 2001 in den USA waren sicherlich ein Einschnitt. Seitdem baut man die Antiterrorgesetze stetig aus. Auch in der Schweiz ist es zunehmend so, dass, sobald in der Debatte das Wort «Terrorismus» fällt, jeglicher Sinn für Verhältnismässigkeit verloren geht. Terrorismus ist momentan der «public enemy number one». Früher war es die Mafia, jetzt ist es der Terrorismus. Da verlieren viele Leute die Realität aus den Augen. Aber die Verhältnismässigkeit darf man nicht aus den Augen verlieren.

Amnesty International warnt vor schwammig formulierten Antiterrorpaketen. Stünden sie erst einmal im Gesetz, würden sie auf politische Aktivistinnen und Aktivisten oder Minderheiten ausgeweitet. Müssen wir das auch in der Schweiz befürchten?
Die Gefahr besteht. Es sagt ja niemand, dass diese Gesetze später restriktiv angewendet werden, wenn sie jetzt schon so weitläufig formuliert sind. Da müssen wir aufpassen, sonst gibt es kein Halten mehr.

Das Antiterrorpaket : Überwachung, Fichen und Fussfesseln

In den vergangenen Jahren haben die Schweizer Behörden ein ganzes Paket von Massnahmen und Gesetzen zur «Terrorismusbekämpfung» geschnürt. Es basiert auf drei Pfeilern: dem «Nationalen Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus» (NAP), den «polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus» (PMT) und verschärften Antiterrorstrafgesetzen.

Das neue Nachrichtendienstgesetz bildet die Voraussetzung für die drei Pfeiler, da es Instrumente zur nahezu lückenlosen Überwachung vorsieht. Auch der erste Pfeiler, der NAP, ist bereits beschlossene Sache und umfasst 26 Massnahmen für Kantone und Gemeinden. Dabei sollen Lehrpersonen, Jugendarbeiter und Sporttrainerinnen geschult werden, um «Radikalisierung» frühzeitig zu erkennen – und zu melden. Zudem sollen Register von «potenziell gefährlichen Personen» eingeführt und schweizweit vernetzt werden.

Diese Register wiederum dürften bald schon die Grundlage für den zweiten Pfeiler bilden: die präventiven PMT, die die Polizei künftig gegen sogenannte Gefährder anordnen könnte. Die Vorlage sieht Zwangsmassnahmen für Personen vor, gegen die kein konkreter Verdacht vorliegt – etwa Ausreisesperren, Kontaktverbote, elektronische Fussfesseln und Hausarrest.

Als dritter Pfeiler soll das Strafrecht verschärft werden (vgl. Haupttext oben). Die Strafen für die Mitwirkung oder Unterstützung einer terroristischen Organisation etwa sollen verdoppelt werden – auf bis zu zehn, in bestimmten Fällen sogar zwanzig Jahre Haft. Über die PMT und das Antiterrorstrafgesetz wird das Parlament voraussichtlich im Herbst beraten.

Merièm Strupler