Von oben herab: Dritter Klasse

Nr. 4 –

Stefan Gärtner über den Green Pass von SBB und BMW

Ich liebe meinen kleinen Bruder, aber politisch geraten wir gern mal aneinander. Dass z. B. immer mehr Leute immer ärmer würden, glaubt er nicht, und unübersehbar sei doch wohl der Fortschritt als wissenschaftlich-technisch-medizinischer. Dann frage ich: Wem dient er denn, dein Fortschritt? Aber irgendwann gibt es bei Streitereien, politischen zumal, den Punkt, da kommt man nicht weiter. Es wird bloss immer lauter.

Der Green Pass von SBB und BMW, mit dem ausgewählte Kundschaft für 12 200 Franken ein Jahr lang ein GA der ersten Klasse, einen Elektro-BMW und weitere «Mobilitätsangebote» nutzen darf, würde ihm gefallen. Klar, würde er sagen, sei dieses «Luxus-Öko-Abo» («Blick») erst mal nur für Reiche, aber das seien Erfindungen doch immer, und zehn Jahre später haben das dann alle. Vermutlich würde ich einwenden, dass das «alle» erstens nicht stimmt – wie viele haben bis heute kein fliessend Wasser? – und dass zweitens die Verbreitung einer Erfindung noch nichts über den Fortschritt aussagt, den sie bedeutet. Dass alle von früh bis spät auf ihrem Telefon herumwischen, ist das nun Fortschritt?

Man definiere überhaupt «Fortschritt», und Meister Adorno ist vor der Frage bescheiden geworden: Fortschritt sei, wenn niemand mehr hungern müsse. Formulieren wir es anders: Solange Menschen im Winter auf der Strasse erfrieren oder nicht lesen und schreiben können, solange die einen Porsche und die anderen Pakete ausfahren, solange die einen das Geld aus dem Fenster werfen, das die anderen nicht haben, muss Fortschritt sich den Vorwurf gefallen lassen, er sei keiner. Weniger Kinder sterben an Malaria? Gut. Aber warum sterben überhaupt Kinder an Malaria?

Der Green Pass, der ein Grossversuch in Sachen Mobilitätsverhalten ist – «Wir wollen herausfinden, wie sich das Verhalten der Teilnehmer ändert, wenn ihnen die gesamte Mobilitätspalette pauschal wie ein GA zur Verfügung steht» (SBB-Chef Andreas Meyer im «Blick»-Interview) –, soll natürlich mal für alle da sein: «In zwanzig Jahren wird jedes Kind einen Swisspass haben, der einem eine grosse Auswahl an Mobilitäts-Angeboten zur Verfügung stellt» (ders.). Andererseits lebt jedes sechste Kind in der Schweiz (wie in Deutschland auch) in Armut oder ist von ihr bedroht und hat vielleicht ganz andere Sorgen als die Grösse der Mobilitätspalette; wie von dem Geld, das die Zugfahrt von meinem norddeutschen Schreibtisch zur Redaktionskonferenz nach Zürich kosten würde, ein Opfer von Hartz IV zehn Tage leben muss. Und auch der überragend «ökologische» BMW i3, der bei der Aktion mitpromotet wird, ist für Arme nicht gedacht. Für die ist nämlich überhaupt nicht mehr viel gedacht.

Die «Mobilität», von der hier die Rede ist, ist so wenig für alle wie der flexibilitätshysterische Laden, dem diese Mobilität dient. Ironischerweise in einem (aus Spass und günstiger Gelegenheit gebuchten) Erste-Klasse-Abteil der Deutschen Bahn las ich den «Tatsachenroman» eines gehobenen Journalisten, der in der Printkrise seine Stellung verliert und als Möbelverkäufer strandet, auf Provisionsbasis, ausgebeutet bis aufs Blut. Eines der Dinge, die sich in seinem bislang verwöhnten Leben ändern, ist, dass er nicht mehr im Intercity sitzt. Warum auch; und wovon.

Diese Leute brauchen keinen Green Pass, und der Pass braucht sie erst recht nicht. Gibt ja auch keine dritte Wagenklasse mehr, odrr.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.