Muslimische Identitäten: Der freundliche Dschihad

Nr. 5 –

Von traditioneller Lyrik bis Rap: Zwischen Europa und Syrien finden junge Muslime und Muslimas heute in Versen ihren wichtigsten kulturellen Ausdruck. Das gemeinsame Motiv ist identitäre Selbstermächtigung.

Der Religion einen Schritt voraus: Muneera Rashida und Sukina Abdul Noor bilden das feministisch-muslimische Rap-Duo Poetic Pilgrimage. Foto: Hassan Hajjaj, Courtesy of Rose Issa Projects

«Ich bin immer noch ein Punkrocker, aber ich ziehe es vor, ein Muslim zu sein – das ist rebellischer.» So sprach der Rapper Aki Nawaz vor ein paar Jahren zum Auftakt eines Vortrags an einer Londoner Universität, und das Publikum lachte. Ein paar Jahre davor war Nawaz ob diesem Satz noch kaum zum Lachen zumute. In der Post-9/11-Hysterie wirkte das Album «All Is War (The Benefits of G-had)» (2006) seiner experimentellen Hip-Hop-Gruppe Fun-Da-Mental wie ein kultureller Brandsatz. Auf dem Album wurde Usama Bin Laden mit Che Guevara verglichen oder auch eine detaillierte Anweisung zum Bau einer Bombe gegeben.

Eigentlich hatten Fun-Da-Mental mit dieser Provokation in die Debatte um Terrorismus eingreifen, ein Gegengewicht sein wollen – gerade als Muslime, die den Westen und seine Definitionshoheit über den Begriff «Terrorismus» kritisieren. «Wir wollten die Debatte neu kalibrieren», sagt Nawaz nun zur Journalistin Yvonne Kunz in deren Buch «Jihad Rap». Doch die Debatte kam gar nicht erst zustande. Für die britische Boulevardpresse war Nawaz schon bald der «suicide bomb rapper», PolitikerInnen forderten seine Verhaftung wegen Anstiftung zum Terror. Enttäuscht zieht Nawaz den Schluss: «Fun-Da-Mental sind als Ganzes gescheitert.»

Dschihad als Selbstfindung

Dass Nawaz, der linke Aktivist, der an der School of Oriental and African Studies in London eine Radiosendung über nonkonformistische Musik aus der ganzen Welt macht, ein Dschihad-Rapper sein soll, erstaunt zunächst. Doch Kunz interessiert sich in ihrem Buch nicht in erster Linie für die Propaganda zum bewaffneten Kampf des radikalen politischen Islam. Eher für eine Art Selbstfindung europäischer Muslime und Muslimas mit popkulturellen Mitteln. «Dschihad», das arabische Wort für «Anstrengung» oder «Kampf», meint in diesem Kontext vor allem den Kampf mit sich selber.

Für Sukina Abdul Noor, die eine Hälfte des in London ansässigen feministisch-muslimischen Rap-Duos Poetic Pilgrimage, bedeutet «Dschihad» ganz ähnlich «die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und Spiritualität» – und in einem zweiten Schritt, eine eigene postmigrantische Identität zu entwickeln, die sich gegen die westliche Diskriminierung von MuslimInnen wie auch gegen den islamistischen Extremismus behaupten kann.

Doch die Popkultur wirkt dabei nicht immer als friedliche Vermittlerin von Identitäten, wie die von Kunz rekonstruierte Geschichte des Berliners Denis Cuspert zeigt. Als Gangsta-Rapper Deso Dogg war er zwar längst nicht so erfolgreich wie seine Kollegen Sido oder Bushido, wegen seines klassenkämpferischen Gestus war er aber auch bei der Linken beliebt. Dann wechselte er seinen Künstlernamen zu Abou Maleeq und damit in die Salafistenszene. Im Stück «Wacht doch auf» von 2010 etwa ruft er – nun nicht mehr gerappt, sondern in einer traditionellen islamischen Liedform – dazu auf, «zu Allah zurückzukehren».

Das Lied lief auf dem iPod des damals 21-jährigen Arid Uka, als dieser 2011 am Frankfurter Flughafen zwei Soldaten eines US-Trupps erschoss, der gerade nach Afghanistan reisen sollte – der erste islamistisch motivierte Anschlag mit Todesopfern in Deutschland. Doch es hängt sich eine weitere popkulturelle Schleife an: Entscheidend zu Ukas Radikalisierung soll ein Internetvideo beigetragen haben, in dem scheinbar zwei US-Soldaten in Afghanistan ein Mädchen vergewaltigen. Nur: Die Geschehnisse im Video waren fiktiv – die Szene wurde aus Brian De Palmas quasidokumentarischem Kriegsfilm «Redacted» herausgeschnitten.

Die Hofdichterin des IS

Eine weitere aufschlussreiche Perspektive eröffnen der Literaturkritiker Robyn Creswell und der Orientalist Bernard Haykel. In einem Essay für den «New Yorker» thematisieren die beiden die immense Bedeutung traditioneller islamischer Poesie auch für das islamistische, mit gewaltsamem Widerstand in Verbindung stehende Verständnis des Dschihad. So genoss Usama Bin Laden nicht nur als Terroristenführer grosses Ansehen, sondern eben auch als Dichter.

Die Hauptfigur bei Creswell und Haykel ist eine Frau: die syrische Dichterin Ahlam al-Nasr – offizielle Propagandistin und Hofdichterin des Islamischen Staats. In einem euphorischen Text beschreibt sie die IS-Hauptstadt Rakka als islamistisches Utopia. Dieser Ort, den wir vor allem mit totalitären Strukturen und mittelalterlichen Werten in Verbindung bringen, ist für Nasr einer des Neuanfangs, ein «Grenzgebiet, wo alles in Bewegung und verhandelbar ist – nicht nur politische Grenzen, sondern auch persönliche Identitäten». Neben der Ablehnung des Nationalstaats zeichne sich die IS-Ideologie auch durch ihren Angriff auf elterliche Autorität und die Betonung individueller Ermächtigung aus. Daher, so Creswell und Haykel, sei es kein Zufall, dass keine islamistische Bewegung vor dem IS so erfolgreich darin war, Frauen für sich zu gewinnen.

Bei allem, was die islamistische Hofdichterin vom liberalen Dschihad-Rap in Europa trennt: Sie treffen sich im Motiv der Selbstermächtigung. Nur waren Poetic Pilgrimage der Religion einen Schritt voraus: Sie hiessen nämlich schon so, hatten ihre Pilgerfahrt also bereits gestartet, bevor sie konvertiert waren.

Yvonne Kunz: Jihad Rap. An den Rändern muslimischer Subkulturen. Ventil-Verlag. Mainz 2016. 144 Seiten. 18 Franken