Berlinale: Was will ein Mann mit 72 Jungfrauen?
An der Berlinale lässt Raoul Peck den US-Denker James Baldwin aufleben – aber scheitert an Karl Marx. Und ein Algerier befragt seine Landsleute zu Sex im Paradies.
Viel weiss man in Europa nicht über den Islam, aber das mit den 72 Jungfrauen hat sich herumgesprochen. Sie sind dem muslimischen Mann im Paradies verheissen, und es gibt ausführliche Beschreibungen, wie diese Jungfrauen aussehen: Ihre Haare sind schwarz, ihre Schenkel weiss, sie sind anschmiegsam, und manchmal heisst es sogar, dass sie Wein kredenzen. Was dem muslimischen Mann also auf Erden versagt ist, damit wird er im Paradies entlohnt.
Und was ist mit der muslimischen Frau, was hat sie zu erwarten? «Müssen wir etwa weiter den Haushalt putzen, wie schon hier auf der Erde?» So fragt sich eine der Interviewpartnerinnen im algerischen Dokuessay «Investigating Paradise». Die Fantasien über das Paradies, so zeigt der Film, sind auch im Islam stärker an das Hier und Heute gebunden, als deren PropagandistInnen zugeben wollen.
Regisseur Merzak Allouache wählt für seine Paradiesrecherche ein fiktives Setting: Die Schauspielerin Salima Abada spielt eine Journalistin namens Nedjma, die Leute dazu befragt, wie sie sich das Paradies vorstellen – auf der Strasse, in ihrer privaten Umgebung oder bei offiziellen Terminen. Manche Antworten sind putzig, manche gedankentief: Ein Mann beschreibt das Paradies lachend als ideale Mischung aus Sozialismus und Kindergarten, eine Frau schildert mit grossem Ernst, wie sie mit Gott reden und er ihr endlich zuhören wird.
Das Gelächter der Frauen
Vor allem die Predigt eines Salafisten hat es Nedjma angetan. Darin schildert ein Imam das Paradies mit den Jungfrauen in geradezu pornografischer Ausführlichkeit. Das Video wird den verschiedenen GesprächspartnerInnen vorgespielt, die zum Teil sehr heftig darauf reagieren. Manche der Frauen – für einmal kommen weibliche Stimmen nicht zu kurz – können nur höhnisch lachen: «Die werden hier doch kaum mit einer Frau fertig, was wollen die mit 72?» Auch viele der Männer schütteln den Kopf: «Das wahre Paradies für den Algerier sieht doch so aus: blonde Haare, blaue Augen, und es liegt nördlich des Mittelmeers.»
Spontane Aussagen wie diese schneidet Allouache zusammen mit wohldurchdachten Statements von Künstlerinnen und Schriftstellern. Aus dem anfangs beschränkt scheinenden Thema entfaltet er auf diese Weise eine erfrischend differenzierte Diskussion über das heutige Algerien. Die Dinge, die zur Sprache kommen, sind beunruhigend: der Einfluss der Wahhabiten, die Ökonomisches mit Religiösem verschmelzen, die sexuelle Frustration, die sich im «Machopornografismus» von den 72 Jungfrauen zeigt, aber auch die schleichende Entpolitisierung des gesellschaftlichen Diskurses, wenn man über das Paradies diskutiert statt über Städtebau. Gleichzeitig liefert Allouache mit «Investigating Paradise» einen keineswegs schwachen Trost: allein dadurch nämlich, dass es diesen Film und die progressiven Stimmen, die darin zur Sprache kommen, überhaupt gibt.
So scharf, dass es schmerzt
Den besten Beleg jedoch, wie wertvoll Dokumentarfilme sein können, um Stimmen zu Gehör zu bringen, lieferte auf dieser Berlinale der haitianische Regisseur Raoul Peck. Sein Film «I Am Not Your Negro» ist bereits für den Oscar nominiert, in Berlin feierte er jetzt Europapremiere. Die Stimme, der Peck mit seinem Film neue Geltung verschafft, ist die des afroamerikanischen Intellektuellen James Baldwin (1924–1987).
Statt eines Durchgangs durch dessen Leben und Werk adaptiert Peck einen von Baldwins unvollendeten Essays über die Bürgerrechtsaktivisten Medgar Evers, Malcolm X und Martin Luther King. Der Text ist eine bittere Auseinandersetzung mit dem Rassismus in den USA. Zwar arbeitet Peck mit Elementen wie Archivbildern, Interviews und Textzitaten, aber er arrangiert dieses Material mit solcher Lust am Ein- und Widerspruch, dass er viel mehr bewirkt, als nur die klugen Sätze zu illustrieren – tatsächlich lässt er etwas von Baldwins Esprit lebendig werden. So vergisst man bald, dass es Samuel L. Jackson ist, der aus dem Off spricht: Er wird zum Bauchredner für Baldwin, dessen markantes Gesicht vielleicht weniger telegen, dessen scharfes Denken in seiner Ungefälligkeit und Unversöhnlichkeit aber umso einprägsamer war.
Es ist geradezu banal, von der Aktualität Baldwins zu sprechen. «Die Geschichte ist nicht das Vergangene, sie ist die Gegenwart», heisst es einmal im Text – die traurige Wahrheit dieses Satzes belegt Peck mit Bildern von Vorfällen wie in Ferguson oder der Misshandlung von Rodney King in Los Angeles. Und er arbeitet mit fast verletzender Schärfe eine von Baldwins Hauptthesen heraus: dass nämlich Rassismus den USA eingeschrieben ist und nur über diese Selbsterkenntnis überwunden werden könnte.
Marx spaziert durch Köln
Zu den Kuriositäten dieser Berlinale gehört, dass es Peck mit seinem relativ bescheidenen Essay gelingt, Baldwins Denken lebendig zu machen, ihm selbiges aber mit dem aufwendig ausgestatteten Spielfilm «Der junge Karl Marx» völlig missrät. Wo die Dokuform die Thesen förmlich strahlen lässt, verläppert sich das marxsche Denken, wenn man es in einem Spielfilmplot als Unterhaltung präsentiert.
«Du, ich habe mir gedacht, dass bislang die Philosophen die Welt nur interpretiert haben – was man tun müsste, wäre aber, sie zu verändern», sagt da Karl zu Friedrich Engels, während sie durch Köln spazieren. Dass die Ideen dieser zwei das 20. Jahrhundert wesentlich mitgeprägt haben, glaubt man dem Film an keiner Stelle.