Raoul Peck: Ist der Tag der Abrechnung gekommen?
Die Linke müsse aufhören, sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen, sagt der haitianische Filmemacher. Wir seien alle Teil derselben Geschichte und müssten auf dieser Unteilbarkeit beharren.

WOZ: Raoul Peck, wo stehen wir gerade?
Raoul Peck: Wir befinden uns offensichtlich in einer düsteren Situation. Düsterer wohl noch, als die meisten denken. Allerdings ist für mich nichts daran überraschend, man konnte das schon vor etwa vierzig Jahren kommen sehen. Mittlerweile hat einfach auch der Westen gemerkt, wie tief wir in der Scheisse sind. Der Rest des Planeten steckt da aber schon seit sechzig Jahren drin.
WOZ: Sie klingen wütend.
Raoul Peck: Besonders sauer bin ich auf die Linke, die seit den siebziger Jahren nur noch mit sich selbst beschäftigt ist. Die Gemeinschaften lösen sich auf, weil jeder und jede nur noch mit dem eigenen Überleben und der eigenen Arbeit beschäftigt ist. Es sind die Konsequenzen des Reaganismus und des Thatcherismus, für die wir jetzt alle bezahlen.
WOZ: Welche Konsequenzen sind das?
Raoul Peck: Die Leute sind sich gar nicht bewusst, wie weit die Zerstörung der Demokratie bereits vorangeschritten ist. Ich habe den Politiker:innen des Westens nie vertraut, wenn sie von Demokratie redeten und gleichzeitig autoritäre Regimes unterstützten, wie etwa jenes in meiner Heimat Haiti. Die Demontage der Presse während der letzten vier Jahrzehnte ist ein weiteres Beispiel; ich erinnere mich an den Begriff, den sie dazu brauchten: «Rationalisierung». Damit lässt sich anscheinend jeder Abbau rechtfertigen: von Sozialhilfe und sozialen Projekten über Spitalbudgets bis zu Schulfächern. Meinen Sie, das habe keine Auswirkungen?
«Ein toter Mensch bedeutet nicht überall das Gleiche.»
WOZ: Sie meinen, dass die Linke die Prinzipien des Neoliberalismus irgendwann als gegeben hingenommen hat und sich seither im Überlebensmodus befindet?
Raoul Peck: Absolut. Von aussen betrachtet ist die Linke dumm und besessen von sich selbst geworden. Oder zumindest vom eigenen Überleben, dem Kampf um die Macht. Dieser gleicht mittlerweile einem Kampf um einen Tierkadaver. Ich meine das nicht böse, das ist einfach die Realität. Früher schrien wir auf den Demos noch: «Hoch die internationale Solidarität!» Diese Solidarität ist heute verschwunden. Das neue Hauptanliegen lautet: Wie überstehen wir die nächsten Wahlen? Und jetzt können wir dabei zusehen, wie jemand wie Trump den ganzen Planeten verwüsten kann. Aber es gab schon unzählige vor ihm: Reagan, Clinton, Berlusconi, Sarkozy …
WOZ: Nur dass Trump sich nicht einmal mehr die Mühe macht, irgendetwas vorzuspielen.
Raoul Peck: Alle folgen dem gleichen Modell. Bisher war das für den Westen akzeptabel, weil die direkten Folgen, also die Kriege und die Ausbeutung, in weiter Ferne stattfanden. Ich bin im Kongo aufgewachsen. Es gibt keinen Zeitpunkt, an dem ich mir nicht bewusst bin, dass dort jeden Tag Kinder sterben wegen des Coltans, das in unseren Handys steckt.
WOZ: «Die Geschichte kennt keine Ironie, nur die Abrechnung», lautet ein Satz in Ihrem Dokumentarfilm «Lumumba. La mort du prophète». Ist der Tag dieser Abrechnung jetzt gekommen?
Raoul Peck: Damals konnte ich das natürlich nicht wissen, aber genau das passiert heute. Man kann versuchen, die Geschichte zu unterdrücken. Sie zu editieren, wie es einem gerade gefällt. Doch sie ist eine einzige lange Linie. Es gibt keine «Geschichte Europas» oder Amerikas. Alles ist dieselbe Geschichte, weil alles zusammenhängt – egal wie oft versucht wird, diese Verbindungen zu durchtrennen. Für die USA existiert das alte Europa nicht mehr, sondern nur noch «die Neue Welt». Zwar musste man da erst fast die gesamte indigene Bevölkerung ausrotten und die Sklaverei einführen, aber jener Teil wird in der Geschichtsschreibung dann ausgelassen. Die Neue Welt sollte eine ursprüngliche Welt sein – was natürlich eine komplette Fantasie ist.
«Die Leute wissen immer mehr und tun immer weniger. Sie schauen zu und sagen nichts.»
WOZ: In Ihrer vierstündigen TV-Dokumentation «Exterminate All the Brutes» zeigen Sie unter anderem, wie der Umgang mit der Urbevölkerung bei der Besiedlung Amerikas eine direkte Vorlage für den Holocaust war.
Raoul Peck: Wer zwischen dem durch die Nazis verübten Genozid an den Jüdinnen und Juden und jenem der europäischen Siedler an der indigenen Bevölkerung Nord- und Südamerikas sowie der Sklaverei keine Verbindung sieht, wird die heutige Welt und ihre Funktionsweisen nicht verstehen. Aber so funktioniert vielerorts die Geschichtsschreibung: Kleine Stücke werden entfernt, bis eine heute lebende junge Person von diesen Zusammenhängen keine Ahnung mehr hat. Wie soll sie dann noch verstehen, wie es zu Trump kommen konnte?
WOZ: Den Holocaust bezeichnen Sie in einem Ihrer Filme als «die einzige Masseinheit der Menschheit». Gleichzeitig sei der Genozid «ein unvermeidliches Produkt der Moderne». Können Sie das kurz erklären?
Raoul Peck: Die Einzigartigkeit des Holocaust verstehe ich wohl anders, als dies manche Historiker:innen tun. Der für mich zentrale Faktor ist, dass er mitten im modernen Europa geschah. Argumente, die ich mir manchmal anhören muss, wie etwa, dass die Menschen in Ruanda halt «Wilde» seien, gelten hier nicht. Seit dem ganzen Chaos in Europa weiss jede:r, dass es auch hier geschehen kann. Und wenn das so ist, dann ist alles möglich. Deswegen hat sich auch Primo Levi umgebracht: Weil die Welt so für ihn keinen Sinn mehr ergab. Ich kann das nachvollziehen. Wir sollten den Holocaust nicht nur als etwas denken, das nicht mehr passieren darf, sondern als etwas, das tatsächlich passiert ist. Denn damit hängt auch die Frage nach dem Wert eines Menschenlebens zusammen. Ein toter Mensch bedeutet nämlich nicht überall das Gleiche, und ein toter Mensch in Gaza bedeutet für die Welt offenbar: gar nichts.
WOZ: Wie konnte es so weit kommen?
Raoul Peck: Eigentlich will ja niemand seine Nachbar:innen töten. Deshalb muss ein Staat erst die Grundlagen schaffen. In der Regel beginnt es mit Gesetzen, wie jetzt in den USA: Trump greift Institutionen und Universitäten an. Wenn die sich nicht wehren, werden es auch die Schwächeren nicht tun. So führt man eine Diktatur ein.
WOZ: Aber wieso kann Israel tun, was es in Gaza tut? Weshalb lehnt sich niemand gegen Trump auf? Wenn doch alles so offensichtlich ist …
Raoul Peck: Das meinte ich vorhin: All das passiert nicht erst seit kurzem, sondern seit einer ganzen Weile. Und trotzdem glauben die Leute immer noch, dass es bei ihnen nicht so weit kommen kann. Sie haben auch gelernt, dass man sich besser heraushält, solange es einen nicht persönlich betrifft. Alle haben sich in ihren kleinen eigenen Leben isoliert. Das, was man früher «das Kollektiv» nannte, ist verschwunden. Institutionen und Gewerkschaften stehen unter Dauerbeschuss und kämpfen um ihr Überleben, während die Bürger:innen zu Konsument:innen geworden sind und den Protest verlernt haben.
WOZ: Am beunruhigendsten, sagen Sie in «Exterminate All the Brutes», seien die Abwesenheit von Spott und das Schweigen der Selbstgefälligkeit. Ist Ihnen denn noch nach Lachen zumute?
Raoul Peck: Schauen Sie sich Trump im TV an: Er ist komplett lächerlich. Im selben Raum sitzen dann all die grossartigen Journalist:innen – und niemand lacht! Obschon dieser Idiot und mit ihm die ganze Situation vollkommen lachhaft ist. Der König ist nicht nur nackt, sondern er führt auch noch lächerliche Posen auf. Und er lügt vor der ganzen Welt. Was daran ist akzeptabel?
WOZ: Wenigstens kann man sich darauf verlassen, dass er immer lügt. Und dass er ein schlechter Lügner ist. Ein schwacher Trost?
Raoul Peck: Trump ist ja nicht der Erste, bloss der Rüpelhafteste. Bei George W. Bush war auch allen klar, dass er keinen Schimmer hatte, wovon er sprach. Und doch gab es nur einen einzigen Moment, in dem er angemessen behandelt wurde: von einem irakischen Journalisten, der an einer Pressekonferenz einen Schuh nach ihm warf.
WOZ: Immerhin ein starkes Bild wie aus einem Film …
Raoul Peck: Ja, als ob ein kleines Fenster geöffnet wurde, durch das man die Realität sehen konnte.
WOZ: Eine Realität, die, wie Sie eingangs festgestellt haben, düster aussieht. Wie könnte denn ein möglicher Weg aussehen, der uns da wieder hinausführt?
Raoul Peck: Als Vertreter einer linken Zeitung müssten Sie das eigentlich bereits wissen: indem man von Tür zu Tür geht und mit den Leuten spricht. Denn diese haben das Vertrauen in die Politik längst verloren. Weil das ganze Blabla des offiziellen politischen Diskurses nichts mehr mit dem eigenen Alltag zu tun hat. Und man muss den Massstab erweitern. Zeigen, was ihre Realität mit jener im Kongo zu tun hat, mit Südafrika, mit Thailand und überall sonst. Alles ist verbunden.
WOZ: Ist es das, was Sie mit Ihren Filmen beabsichtigen? Verbindungen aufzuzeigen?
Raoul Peck: Jedenfalls ist es das, was ich versuche: die Geschichte wieder zu verknüpfen, das Gemeinsame wiederherzustellen. Wir müssen verstehen, dass wir alle auf demselben Planeten leben und voneinander abhängig sind. Selbst wenn dies manche nicht wahrhaben wollen oder sogar davon ablenken möchten.
WOZ: Braucht es neue politische Theorien? Einen neuen Karl Marx? Ihm haben Sie 2017 immerhin einen Spielfilm gewidmet.
Raoul Peck: Alles ist bereits da. Man muss es sich nur holen.
WOZ: Wozu dient dann die Kunst? Fotografien wie jene von Ernest Cole, Texte wie jene von James Baldwin? Und wozu noch Filme drehen?
Raoul Peck: Kunst kann Anstösse geben. Was meine Filme «I Am Not Your Negro» und «Ernest Cole: Lost and Found» betrifft, so hoffe ich, dass sie dazu motivieren können, weiterzugraben. Ein Buch zu lesen und sich zu bilden. Das meine ich damit, wenn ich sage, dass alles bereits da ist. Das schreibt auch Sven Lindqvist in der Buchvorlage zu meiner Serie «Exterminate All the Brutes». Die Fakten sind bekannt, die Analyse ist gemacht. Man braucht sie nur noch auf das eigene Handeln zu übertragen. Man muss nicht den Mond neu entdecken. Es reicht, wenn man sich ein bisschen bemüht – und aufhört, blosse:r Konsument:in zu sein.
WOZ: Das hat ja immer auch einen Preis. Wie soll man es schaffen, stets informiert zu bleiben und nie wegzuschauen, wenn auf der Welt die grässlichsten Dinge passieren, ohne darüber depressiv zu werden?
Raoul Peck: Depressiv wird man, weil man allein ist. Nicht, weil man etwas tut. Wer ein starkes Kollektiv um sich hat, wird in der Regel nicht depressiv – und wenn, dann kümmert sich jemand um einen. Künstler:innen sind oft isoliert und haben eine dünnere Haut, eine höhere Empfindsamkeit. Das tragen sie oft allein auf ihren Schultern, ja. Aber niemand unter ihnen würde etwas anderes wählen. Zu wissen, dass man versteht, was gerade passiert, hat eine unglaubliche Kraft, die dem Leben Sinn verleihen kann. Was natürlich nicht automatisch den Reflex vertreibt, nicht glücklich sein zu können, wenn es andere auch nicht sind. Es wird immer Menschen geben, denen es schlechter geht als mir selbst. Doch nur schon deshalb kann ich es mir nicht leisten, depressiv oder müde zu werden. Weil meine Landsleute jeden Tag um ihr Überleben kämpfen müssen und ich privilegiert bin.
WOZ: Wo würden Sie die wichtigsten Unterschiede zwischen Ihnen und Ernest Cole sehen?
Raoul Peck: Nun ja, erst mal ist mir ein längeres Leben als ihm vergönnt. Er starb ja mit 49 Jahren …
WOZ: … an Krebs; wobei es ihm aber schon früher sehr schlecht ging.
Raoul Peck: Stellen Sie sich vor, sie lebten isoliert im Exil, ohne Möglichkeit, auf das Geschehen in der Heimat Einfluss zu nehmen. Menschen, die sich fern ihrer Heimat aufhalten, sind mit den Gedanken immer auch dort. Stellen Sie sich also vor, dass die Situation dort sehr schlimm ist, dass jeden Tag Bekannte von Ihnen verhaftet werden oder sterben. Das Einzige, was Ihnen bleibt, ist Ihr Job, und auch das nur mit Einschränkungen. Wer würde da nicht depressiv oder paranoid? So jedenfalls erging es Ernest Cole. Es gab in New York Anfang der Sechziger nicht viele Afrikaner. Die meisten Länder auf dem Kontinent waren noch nicht oder erst seit kurzem unabhängig. In den Zeitschriften sah man kaum Schwarze, und Afrikaner:innen schon gar nicht. Man vergisst oft, wie viel sich in bloss vierzig Jahren verändert hat. Ich kam später als Cole nach New York, aber vieles war noch gleich. Filme mit Schwarzen Charakteren, die irgendwie realistisch sind? Gab es nicht. Das kann man ja auch in den Filmanalysen von James Baldwin in «I Am Not Your Negro» gut erkennen.
WOZ: Ist Ihre eigene Arbeit also auch der Versuch, daran etwas zu ändern? Zeit und Ressourcen sind ja beschränkt. Sie widmen sie Menschen wie Baldwin und Cole.
Raoul Peck: Genau. Normalerweise wähle ich meine Themen so aus, dass ich ihnen weitere Schichten beifügen kann. Bei Cole reichen diese bis in die Gegenwart. Spreche ich über Ernest Cole, spreche ich auch über Gaza, über Boykott und all das. Nichts von dem, was auf der Welt passiert, ist neu. Nur die Proportionen sind extremer geworden: Die Leute wissen immer mehr und tun immer weniger. Sie schauen zu und sagen nichts. Klar ist es kompliziert: Die Einschüchterungsstrategien funktionieren, und es gibt immer weniger intellektuelle Stimmen von Gewicht.
WOZ: Befürchten Sie, dass sich die Leute in dieser Situation wieder Positionen wie jener Frantz Fanons zuwenden könnten, die Gewalt befürworten?
Raoul Peck: Fanon hat die Gewalt nie befürwortet. Er hat bloss beschrieben, woher sie kommt. Er fragt: Was habt ihr denn anderes erwartet? Die Gewalt der Kolonisierten ist immer die Reaktion auf die blinde Gewalt des Kolonisators. Fanon sagt nicht, dass wir Gewalt anwenden müssen, sondern dass sie jetzt leider die Konsequenz ist – die man jetzt aber auch zu ihrem Ende führen müsse. Fanon, der ja eigentlich Psychiater war, sagt aber auch, dass der Kolonisator wie der Kolonisierte eine Therapie bräuchten, weil beide völlig in diese Tragödie eingebettet sind.
Der in Haiti geborene und im Kongo, in den USA, in Frankreich und Deutschland aufgewachsene Raoul Peck war Ehrengast am «Visions du Réel» in Nyon. Nebst einer Retrospektive zu seinem dokumentarischen wie auch fiktionalen Werk war sein neuer Dokfilm «Ernest Cole: Lost & Found» als Vorpremiere zu sehen. Im Rahmen einer Masterclass betonte Peck, 1996/97 Kulturminister von Haiti, dass das Politische für ihn immer an erster Stelle stehe und der Film die Form sei, in der er Politik betreibe.