Antirassismus: Der Gipfel der Hetze
Als 2009 in Davos ein Flüchtlingsheim eröffnet wurde, reagierte das Dorf skeptisch bis feindselig. Ein Verein hat es geschafft, die Stimmung zu kehren – gegen ein Gratisblatt.
Davos und die ImmigrantInnen – das ist eine lange Geschichte. Überspitzt könnte man sagen: Ohne Flüchtlinge und AusländerInnen gäbe es Davos als Kurort nicht. Da war zum Beispiel Alexander Spengler, ein Arzt und Revolutionär, der nach der gescheiterten Märzrevolution 1848 aus Deutschland in die Schweiz flüchtete. Schliesslich landete er im Prättigau. Dort praktizierte er als Landarzt und experimentierte mit Kuren. Oder der Niederländer Willem Jan Holsboer, der wegen seiner tuberkulosekranken Frau nach Davos kam und die Rhätische Bahn begründete. Spengler und Holsboer wurden Freunde und gaben wichtige Impulse für die Entwicklung des Kurorts.
Als aber der Kanton Graubünden 2009 im Zentrum der Bergstadt das Asylbewerberheim Schiabach einrichtete, betrachteten FDP, SVP, Hotelierverband und der Gewerbeverein die neuen ZuzügerInnen nicht als mögliche Impulsgeber, sie sahen in ihnen geschäftsschädigende Störenfriede. In einer gemeinsamen Presseerklärung teilten sie mit, es sei problematisch, «wenn sich 100 von Gesetzes wegen unterbeschäftigte Personen in diesem touristisch sensiblen Raum aufhalten».
Sichtbar solidarisch
Die örtliche Juso reagierte darauf und kündigte die Gründung der Interessengemeinschaft offenes Davos an, um «den Dialog zwischen Einheimischen und den Asylbewerbenden aufzubauen». Philipp Wilhelm, heute SP-Kantonalparteipräsident, sagt: «Wir nahmen den Mund recht voll und wussten nicht, ob wir das würden einlösen können.» Sie konnten. Heute ist die IG offenes Davos ein breit anerkannter Verein, der Aufgaben löst, die eigentlich die öffentliche Hand wahrnehmen sollte.
Im Haus Belfort, wo die evangelische Kirchgemeinde mietfrei Räume zur Verfügung stellt, bietet der Verein Flüchtlingen (und Einheimischen) an drei Nachmittagen juristische Beratung sowie einen Computer- und Werkraum an; es gibt Deutschkurse; im örtlichen Jugendtreff öffnet jeweils am Montag ein Café International, und die Flüchtlinge kochen viermal im Jahr für die Bevölkerung. Selbst das anfänglich skeptische Gewerbe macht heute mit. Hoteliers boten eine Schnupperwoche für fünf Flüchtlinge an, die noch im Asylverfahren steckten; sie durften in der Küche, im Service und im Haustechnikbereich mitarbeiten. Einer fand danach gar eine feste Anstellung. Der Kanton finanziert Integrationsprojekte des Vereins, Leute aus der Region bieten spontan ihre Hilfe an. SP-Mann Wilhelm erwähnt ein Beispiel: OrganisatorInnen eines Skianlasses hatten überzählige Skimützen und spendeten diese schliesslich den AusländerInnen. «Sichtbare Solidarität ist wichtig, sie erzeugt neue Solidarität», sagt der SP-Politiker.
Notorisch rassistisch
Inzwischen zählt der Verein etwa 200 Mitglieder und 60 freiwillige HelferInnen. Im zwölfköpfigen Vorstand besitzt die Hälfte keinen Schweizer Pass. Die IG hat laut Philipp Wilhelm modellhaften Charakter: «Integration gelingt nur durch Netzwerke und direkte Kontakte zwischen Flüchtlingen und Einheimischen.» Die IG sucht nicht die Konfrontation, sie versucht, die Menschen zusammenzubringen. Wilhelm betont die internationalen Verbindungen von Davos: Das Lawinenforschungsinstitut wird weit über die Landesgrenzen hinaus wahrgenommen, es gibt ein global führendes Allergieforschungsinstitut, und ja, dann ist da noch das Weltwirtschaftsforum … «Klar, es gibt auch die anderen Stimmen, die sich vor dem Fremden fürchten, aber die anfänglich feindselige Stimmung hat sich längst gelegt.»
Das mag auf die breite Bevölkerung zutreffen, nicht aber auf das Davoser Gratisblatt «Gipfel Zytig», ein journalistisch schlecht gemachtes Presseorgan, das PR und redaktionelle Beiträge nicht klar trennt, Texte aus anderen Zeitungen ohne Quellenangaben publiziert. Unter dem Deckmantel der Satire verbreitet Heinz Schneider, Verleger und Alleinredaktor der «Gipfel Zytig», auf der Seite «Hitsch Bärentalers Schnellschüsse» seit Jahren geschmacklose Witze und rassistische Texte. Einer dieser Texte, angeblich von einer deutschen Ärztin verfasst, geistert durchs Internet. Er setzt Menschen aus Afrika und MuslimInnen auf übelste Weise herab. Es ist bloss eines von zahlreichen Beispielen. Schneider wurde wegen solcher Texte mehrmals vom Presserat gerügt und 2013 vom Bezirksgericht verurteilt.
Während der zweijährigen Probezeit, die ihm das Gericht auferlegte, hielt er sich zurück: In einem Porträt in der «Südostschweiz» gab sich Schneider einsichtig, gelobte Besserung und fühlte sich überhaupt missverstanden. Doch kaum war die Probezeit abgelaufen, legte er wieder los. Im November 2016 verurteilte ihn das Bezirksgericht Prättigau-Davos abermals.
Es gibt Stimmen, die gut finden, was Schneider tut: «Endlich sagt es mal einer.» Und es gibt Leute, die sich dieser Hetze entgegenstellen, beim Presserat intervenieren und Anzeige erstatten. Einer von ihnen ist Jürg Grassl. Der Architekt, im Nebenjob Jugendarbeiter, ist Vorstandsmitglied der IG offenes Davos. Er intervenierte zunächst als Privatperson beim Presserat und zeigte Schneider an. Damit war er nicht der Einzige. Weitere Strafanzeigen gingen ein. Mittlerweile übernimmt die IG offenes Davos diese Interventionsrolle. Das Engagement der IG gegen die «Gipfel Zytig» löste «eine Welle der Solidarität aus». Die Mitgliederzahl des Vereins verdoppelte sich.
Wertet so viel Aufmerksamkeit Schneider und sein Blatt nicht unnötig auf? «Die Zeitung ist zwar schlecht gemacht, aber man darf ihren Einfluss nicht unterschätzen. Sie kommt in alle Haushaltungen in Davos, im Prättigau und im Albulatal», sagt Grassl. Er hoffe, dass die Rügen des Presserats und die Verurteilungen ihre Wirkung nicht verfehlen. «Schliesslich wollen wir unsere Aufmerksamkeit lieber den Geflüchteten widmen, also einer guten Sache.»
Schlampiger Journalismus
Ein anderer Davoser, der sich mit der «Gipfel Zytig» anlegte, ist der Bergführer, Sportgeschäftsinhaber und grünliberale Grossrat Walter von Ballmoos. Er kritisiert die Zeitung seit langem wegen ihrer schlechten Qualität. 2006 organisierte er eine Bündner Klettermeisterschaft. Die prominente Sportkletterin Nina Caprez gewann. «Als die Meisterschaft 2009 wieder stattfand, publizierte die ‹Gipfel Zytig› eine Woche vor dem Anlass die etwas abgeänderte Pressemitteilung von 2006 und verkündete Caprez bereits als Gewinnerin. Die Meisterschaft hatte noch gar nicht stattgefunden.»
Von Ballmoos lancierte eine Kleberkampagne «Keine Gipfel Zytig». Den Kleber konnte man sich in seinem Geschäft besorgen. Die gewöhnlichen «Keine Werbung»-Kleber wurden von den ZeitungsverträgerInnen nicht beachtet. Auch die Intervention bei der Post half nicht. Inzwischen kann man sich beim Gratisblatt auf eine «Negativliste» setzen lassen. Auch der Bergführer und Grossrat findet, man dürfe diese Zeitung nicht unterschätzen. «Daher müssen wir schauen, dass sie von möglichst wenigen Leuten gelesen wird. Einige andere Politiker und ich wollen dort auch nicht mehr abgebildet sein.»
Die WOZ wollte mit Schneider über die Angelegenheit reden. Dieser schlug die Möglichkeit aus – «wegen eines laufenden Verfahrens». Er ficht offenbar das letzte Urteil des Bezirksgerichts an. So viel war immerhin zu erfahren: Schneider sieht durch die Strafanzeigen seine Meinungsäusserungsfreiheit beschnitten.