Sabine Weiss: Fotografien aus der Zeitkapsel

Nr. 9 –

Die hierzulande wenig bekannte 92-jährige Schweizerin Sabine Weiss gehört zu den grossen Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Eine Werkschau in Kriens zeigt, wo heute die politische und ästhetische Kraft ihrer humanistischen Fotografie liegt.

Brotverkäufer in Athen, 1960: Sabine Weiss hat ein untrügliches Auge für visuelle Momente. Foto: © Sabine Weiss

Wir schreiben das Jahr 1955, und im New Yorker Museum of Modern Art wird gerade die wohl grösste und berühmteste Fotoausstellung eröffnet, die es je gegeben hat: Edward Steichens humanistisches Epos «The Family of Man». Steichen porträtiert die ganze Menschheit in über 500 Fotografien als grenzüberschreitenden Familienverbund – von der Wiege bis ans Grab, vom Urknall bis zur Atombombe.

In dieser Monumentalschau, die im Laufe einer zehnjährigen Welttournee von 7,5 Millionen Menschen gesehen wurde, sind auch drei Kinderporträts einer jungen Schweizerin vertreten. Sabine Weiss, 1924 im Walliser Dorf Saint-Gingolph direkt an der französischen Grenze geboren, reihte sich in dieser Schau unter die bekanntesten Fotografen und – selteneren – Fotografinnen der Zeit. Mittlerweile in Paris wohnhaft, hatte Weiss seit den fünfziger Jahren gerade auch in den USA bahnbrechenden Erfolg, mit zahlreichen Einzelausstellungen und Aufträgen namhafter Magazine aus der ganzen Welt.

Propagandistische Absichten

«The Family of Man» war Steichens friedliches Gegenstück zu seiner martialischen Kriegsausstellung «The Road to Victory» (Der Weg zum Sieg) von 1942, in der er mit fotopropagandistischen Mitteln die amerikanische Moral stärken wollte für den Kampf gegen die Achsenmächte. Auch «The Family of Man» wurde nach einer ersten Welle begeisterter Rezensionen eine quasi propagandistische Absicht unterstellt. Kritische Schwergewichte wie der französische Kulturanalytiker Roland Barthes und der US-Fototheoretiker Allan Sekula wiesen – zu Recht – darauf hin, dass die grosse humanistische Geste der Ausstellung mehr verdecke als sichtbar mache, nicht zuletzt einen handfesten Kulturimperialismus. Gerade auch die titelgebende Familienmetapher diene eher dazu, einen sentimentalen und versöhnlichen Mythos zu zementieren als den Blick zu schärfen für die realen sozialen und rassistischen Ungerechtigkeiten.

Diese Kritik kommt einem in den Sinn, wenn man im Krienser Museum im Bellpark ins Untergeschoss steigt, wo eine Auswahl von Sabine Weiss’ Kinderporträts hängt: Kinder in teils erbärmlichen Kleidern spielen und posieren in den Strassen von Paris, Portugal oder New York. In weiteren Räumen sieht man Brotverkäufer in Athen oder eine Hafenbar in Kopenhagen; Liebespaare unter strenger Überwachung einer Anstandsdame oder unbeaufsichtigt knutschend auf nächtlichen Parkbänken. In den oberen Etagen hängen fotografierte Berühmtheiten von Alberto Giacometti über Brigitte Bardot bis zur dänischen Schriftstellerin Karen Blixen – dazu Werbe- und Modefotografie.

Man merkt wohl, dass das Malerische und der anregende Schalk dieser Sujets über manche soziale Realität hinwegcharmieren. Gleichzeitig kann man sich dem Sog der Bilder kaum entziehen. Die Fotografien sind handwerklich herausragend, die Bildarrangements stupend. Weiss hat ein untrügliches Auge für visuelle Momente und Pointen. Dabei zeigen ebenfalls ausgestellte Kontaktabzüge sehr schön, wie der in der Fotogeschichte gern überhöhte «entscheidende Augenblick», dieser vermeintlich magische Moment des Schnappschusses, oft auch etwas gezielt Zurechtgerücktes ist, weil der endgültige Bildausschnitt erst bei der Nachbereitung im Atelier ausgewählt wird.

Parfümflaschen und Strassenkinder

Noch etwas anderes regt sich, wenn man vor dieser schwarzweissen globalen Rundumbebilderung von Menschen und Strassenszenen steht: eine gewisse Wehmut für diese noch im 19. Jahrhundert verwurzelte Inszenierung der Strasse als Laufsteg, Bühne und Kulisse der Habenichtse, ArbeiterInnen und Bohemiens. Und ja, auch die grosse fotografische Behauptung eines geteilten universalen Menschseins, allen Unterschieden zum Trotz, ergreift einen hier plötzlich wieder. Liegt es an der Verrohtheit und Verwirrung unserer eigenen, von Verwerfungen und autoritären Bedrohungen geprägten Zeit, dass einen diese umfassende humanistische Geste auf einmal wieder anrührt – sogar wider besseres Wissen?

Sabine Weiss lebt bis heute in dem Pariser Haus, wo sie ihr einfaches Atelier hat, das sie mit ihrem Gatten, dem US-Maler Hugh Weiss, bis zu seinem Tod teilte. In Interviews erzählt sie, wie sie vormittags oft Berühmtheiten porträtierte, aufwendige Werbe- oder Modeshootings machte und am Nachmittag oder Abend dann auf die Strasse ging, um die «normalen» Leute zu fotografieren. In Sabine Weiss’ Lebenswerk stehen die formvollendet abgebildeten Parfümflaschen, die neckisch arrangierten Dior- Models und die verdreckten Strassenkinder direkt nebeneinander. Das alles verweist auch auf die Blütezeit der Magazinfotografie, auf die Nähe zwischen dem florierenden Drucksachengeschäft und dem technischen Können, das die Fotografie damals noch erforderte.

Die Bilder in Kriens eröffnen eine Schule des Sehens, keine analytische Durchdringung des Abgebildeten. Sozialkritische Schlussfolgerungen darf man selber ziehen. Aber was für zeichenreiche Oberflächen aus einer verflossenen Zeit bekommt man hier vorgeführt! Und mittendrin die Frau mit der Kamera – ein plötzlich wieder eigenartig anrührendes egalitäres Gespann, das mit seinen fotografischen Zeugnissen wie aus einer alten Zeitkapsel in unsere Gegenwart tritt.

Die Ausstellung von Sabine Weiss ist noch bis am 19. März 2017 im Museum im Bellpark in Kriens zu sehen. Am 18. März 2017 gibt es um 17 Uhr ein Gespräch mit Sabine Weiss. «The Family of Man» ist im Schloss Clervaux, Luxemburg, als Dauerausstellung zu sehen.