Deutschland: Gestrandet zwischen Bunkern und Ruinen

Nr. 12 –

In Wünsdorf, eine Autostunde südlich von Berlin, befand sich einst das Oberkommando von Adolf Hitlers Wehrmacht. Später waren hier 50 000 Sowjetsoldaten stationiert. Nun wurden in einem Teil der ehemaligen Kasernen Flüchtlinge einquartiert.

Verlassene Plattenbauten: In Wünsdorf war nach dem Zweiten Weltkrieg das sowjetische Oberkommando in Deutschland stationiert.

Auf dem alten Perron wuchert Unkraut, die Gleise sind herausgerissen, das heruntergekommene Bahnhofsgebäude verriegelt. Jahrzehntelang war hier Endstation der Direktlinie Moskau–Wünsdorf. Jeden Tag fuhr abends um 20 Uhr ein Zug aus dem Dörfchen ab, das in der Mark Brandenburg fünfzig Kilometer südlich von Berlin liegt. Zwei Tage später kam er in der russischen Hauptstadt an. Der letzte Zug fuhr im Herbst 1994. Dann waren die Russen alle abgezogen.

Verlassene Häuser, leere Strassen

Der Gleisstrang diente zugleich als Grenze: auf der einen Seite Wünsdorf mit knapp 3000 EinwohnerInnen, auf der anderen Seite, mitten in einem lichten Wald gelegen, die grösste Garnisonsstadt der Sowjetarmee im Ausland mit rund 50 000 BewohnerInnen, fast ausschliesslich Soldaten. Nur höhere Offiziere lebten hier mit ihren Frauen und Kindern. Die Militärstadt, ein weitläufiges Gelände, so gross wie über 800 Fussballfelder, mit 900 Gebäuden, war komplett ummauert. An fünf Checkpoints wurden die wenigen Deutschen durchgelassen, die eine Sondergenehmigung vorweisen konnten.

Andererseits durften selbst die sowjetischen Offiziere das Militärareal nicht verlassen. Kontakte zwischen SowjetbürgerInnen und Deutschen gab es so gut wie keine. Vielleicht sollten die Soldaten nicht merken, dass es sich im besiegten Deutschland besser leben liess als zu Hause. Einige der Kasernen wurden nach dem Abzug der Militärs in Wohnblocks umgewandelt, andere stehen leer, wieder andere sind schlicht Ruinen. In Waldstadt, wie das alte Militärgelände heute heisst, gibt es zwei Discounter, einen Bäcker und einen Metzger, das Sportstudio «Muskelpeter», «Janni’s Haar Fashion» und einen «Nail & Beauty»-Laden. Viel mehr nicht. Die Strassen sind leer. Nur gegenüber dem ehemaligen Haus der Offiziere trifft man ab und zu Menschen, vor allem aus dem Nahen Osten und Afrika, die hier in einem Erstaufnahmelager untergekommen sind. Flüchtlinge, geflohen vor Armut und Gewalt, gestrandet an einem Ort, wo einst Kriege geplant wurden.

Die Vergangenheit dieses Orts interessiert Thierry Fotso aber nicht besonders. Der 25-jährige Kameruner steht im Schnee, den Kopfhörer um den Hals, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Wird er, der gelernte Elektrotechniker, in Deutschland einen Job finden? Oder waren all die Strapazen der langen Reise umsonst und wird man ihn in seine Heimat zurückverfrachten? Monate war er unterwegs, bis er im Norden Marokkos vor dem hohen Stacheldrahtzaun mit seinen Wärmedetektoren und Infrarotkameras stand. Zusammen mit 200 weiteren Flüchtlingen stürmte er den Zaun. Viele verletzten sich an dessen messerscharfen Klingen. 119 schafften es, hinüberzuklettern nach Ceuta. Das war am 23. April 2016. Ein halbes Jahr wartete Fotso in der spanischen Exklave in Nordafrika, bis er über die Strasse von Gibraltar nach Europa übersetzen durfte. Im Dezember kam er nach Deutschland. Er wolle sich weiterbilden, arbeiten, Geld nach Hause schicken und in einigen Jahren wieder nach Kamerun zurückkehren, um seinem Land zu helfen, sagt er auf Französisch.

Auch ein wenig Deutsch spricht Fotso. Er hat es in der Schule gelernt. Kamerun war einst deutsche Kolonie. Und natürlich weiss er, dass Manga Bell, der Häuptling der Duala, einer kamerunischen Volksgruppe, 1914 unter Kaiser Wilhelm II. hingerichtet wurde. «Aber das ist Geschichte», sagt er in beschwichtigendem Ton. «Deutschland schuldet uns nichts mehr.»

Gegenüber der Flüchtlingsunterkunft, in der Fotso untergekommen ist, steht das Haus der Offiziere. Es ist ein riesiger neobarocker Bau, bewacht von einem mächtigen Lenin, in Stein gehauen, und zwei Männern einer privaten Sicherheitsfirma, denen man nicht allein im Wald begegnen möchte. Sie verlangen zwanzig Euro Eintritt, lassen sich schliesslich auf fünfzehn Euro herunterhandeln. Eine Quittung gibt es nicht. Zu sehen gibt es auch nicht viel: Ein vierstöckiger Palast mit weit über hundert leeren Zimmern und zwei Seitenflügeln, in einem eine Schwimmhalle ohne Wasser, eine Saunaanlage ohne Heizung und ein kahler Raum, der einmal eine Offiziersmesse war, im andern ein Theatersaal, eine Reithalle und ein Kino ohne Bestuhlung. Alles völlig verfallen.

Das Haus der Offiziere wurde 1916 als Militärsportschule gebaut. Kaiser Wilhelm II. hatte hier bereits 1910 einen Truppenübungsplatz angelegt. Ein ganzes Dorf musste deswegen von der Landkarte verschwinden: Zehrensdorf wurde komplett geräumt. Und just da, wo heute das Erstaufnahmelager für Flüchtlinge steht, unter denen viele MuslimInnen sind, wurde 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, die erste Moschee auf deutschem Boden gebaut – für Kriegsgefangene. Im «Halbmondlager» lebten 4000 muslimische Soldaten aus britischen und französischen Kolonien. Über tausend Araber aus diesem Lager erhielten eine militärische Ausbildung und zogen aus der Gefangenschaft direkt in den Krieg zurück – nun als Soldaten des mit Deutschland verbündeten Osmanischen Reichs.

Die hölzerne Moschee wurde 1930 abgerissen, aber von der muslimischen Präsenz zeugt noch der Friedhof im Wald, wo jene begraben wurden, die in der Gefangenschaft starben. 988 Ausländer liegen hier beerdigt.

Betonskelette im Wald

Das Kaiserreich war längst zusammengebrochen, als 1919 die Leiche der prominentesten Kriegsgegnerin im Lazarett der Wünsdorfer Garnison versteckt wurde. Der sozialdemokratische Reichswehrminister Gustav Noske, der den Spartakistenaufstand hatte niederschlagen lassen, hatte die Leiche der ermordeten Rosa Luxemburg heimlich hierherbringen lassen. Er befürchtete Massenunruhen im Fall einer Aufbahrung der Revolutionärin in Berlin.

In der Weimarer Republik wurde Zehrensdorf wieder besiedelt. Doch schon zwei Jahre nach Adolf Hitlers Machtübernahme räumten die Nationalsozialisten das Dorf erneut. Es wurden neue Kasernen gebaut, vor allem aber Bunker. Noch immer stehen sechs 23 Meter hohe oberirdische Spitzbunker im Wald von Wünsdorf. Sie sehen aus wie grosse Raketen, haben im Innern acht Etagen und boten je 315 Personen Schutz.

Und es wurden 23 Bunkerhäuser gebaut, dem Anschein nach Einfamilienhäuschen, aber unter dem Dach hatten sie dicke Betonplatten zum Schutz vor Bomben. Es waren Tarnhäuser, die über den unterirdischen Bunkern errichtet wurden. Die über 800 ober- und unterirdischen Arbeitsräume beherbergten Teile des Oberkommandos der Wehrmacht und des Heers. Nach dem Krieg wurden all diese Bunkerhäuser gesprengt. Ihre Betonskelette liegen noch immer im Wald. Erhalten geblieben ist hingegen der Bunker Zeppelin, eine riesige Anlage – die Nachrichtenzentrale der Wehrmacht. Hier liefen die Informationen von allen Fronten zusammen. Hier schoss sich General Eduard Wagner eine Kugel in den Kopf, bevor er als Mitverschwörer des fehlgeschlagenen Attentats vom 20. Juli 1944 auf Hitler hingerichtet werden konnte.

Im Wald von Wünsdorf wurde das «Unternehmen Barbarossa», der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, geplant – von General Friedrich Paulus, dessen Sechste Armee später bei Stalingrad eingekesselt und aufgerieben wurde. Paulus selbst liess sich später in der DDR nieder.

Als die Rote Armee zwei Wochen vor Kriegsende Wünsdorf erreichte, hatte sich das Oberkommando des Heers bereits aus dem Staub gemacht. Die Sowjets errichteten 1946 hier ihr Oberkommando in Deutschland. Der Bunker Zeppelin diente schon bald wieder als Nachrichtenzentrale. Die Niederschlagung des Volksaufstands in der DDR am 17. Juni 1953 durch sowjetische Truppen wurde wesentlich von Wünsdorf aus geleitet.

Einst eine Ökostadt geplant

Nach ihrem Abzug aus dem wiedervereinigten Deutschland hinterliessen die sowjetischen Truppen ein riesiges menschenleeres Areal. Wünsdorf-Waldstadt, wie das ummauerte Gebiet der einstigen Sowjetgarnison nun hiess, wurde zum grössten Konversionsprojekt Deutschlands. Die Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) des Landes Brandenburg legte schon 1993 verschiedene Vorschläge vor. Man dachte daran, hier eine Ökostadt zu errichten, in der Architektur, Umwelt und Kunst zusammenfinden sollten.

10 000 Menschen wollte man in Wünsdorf-Waldstadt ansiedeln und 2500 Arbeitsplätze schaffen. Doch daraus wurde nichts. Die LEG ging 2001 pleite. So haben sich höchstens 3000 Menschen in den umgebauten Kasernen und Einzelheimen in Wünsdorf-Waldstadt niedergelassen: Rentnerinnen, Pendler aus Berlin und Leute, die in der näheren Umgebung Arbeit gefunden haben.

Das Land Brandenburg plante einst, Behörden in Wünsdorf-Waldstadt anzusiedeln. Realisiert wurde wenig. Das Landesamt für Arbeitsschutz, Verbraucherschutz und Gesundheit hat einige Fachabteilungen ausgelagert. Zudem beschäftigt die Behörde Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum in einer ehemaligen Kaserne 76  Personen.

Das Land muss sparen

Einige Arbeitsplätze sind also geschaffen worden, aber da das Land Brandenburg sparen muss, werden sie zum Teil schon wieder abgebaut. Immerhin kommen nun TouristInnen in die «Bücher- und Bunkerstadt Wünsdorf», um die alten militärischen Anlagen zu besichtigen, sich im Museum Roter Stern über den Alltag der Sowjetsoldaten in der «verbotenen Stadt» zu informieren oder in einem der vier Antiquariate Bücher zu kaufen. Einst sollte hier wie in Hay-on-Wye, einem Dorf in Wales, wo früher vierzig Antiquariate jährlich 80 000 BesucherInnen anlockten, eine Bücherstadt entstehen. Doch das Projekt dümpelt vor sich hin.

Wünsdorf-Waldstadt ist ein geschichtsträchtiger Ort. Doch seit einigen Wochen bricht die Gegenwart in diese Welt der Vergangenheit ein. 995 Flüchtlinge sollen hier unterkommen, ungefähr die Hälfte ist bereits eingetroffen. Berlin hat in den vergangenen zwei Jahren 72 000 Flüchtlinge aufgenommen. Nun sucht man in der Stadt händeringend nach Unterkünften.

Da kommt das Angebot aus Brandenburg gerade recht. Hier in Wünsdorf-Waldstadt ist Platz. Zwar hatten zwei vorbestrafte Neonazis einen Brandanschlag auf eine Kaserne verübt, bevor dort die ersten Flüchtlinge einzogen. Zwar gibt es eine Gruppe, die unter dem Namen «Wünsdorf wehrt sich» auf einer anonymen Facebook-Seite die Angst vor AusländerInnen schürt. Doch davon hat keiner der Kameruner gehört, die sich gegenüber dem Haus der Offiziere bei Eiseskälte die Beine in den Bauch stehen. Angst vor Rechtsextremen scheinen sie nicht zu haben, eher schon vor einem negativen Bescheid ihres Asylverfahrens und einer Abschiebung.

Ein Überbleibsel aus der Nazizeit: Einer von sechs noch stehenden Spitzbunkern in Wünsdorf.

Die beiden Syrer, die vor der Flüchtlingsunterkunft an ihren Smartphones spielen, haben sich die Spitzbunker angeschaut und auch den Friedhof des «Halbmondlagers». Erinnern sie die alten Gräber und die gesprengten Häuser an das, wovor sie geflohen sind? Die beiden bleiben eine Antwort schuldig. Syrien und der Krieg sind weit weg und doch über Youtube, Whatsapp und Skype wieder so nah. Sie haben FreundInnen und Verwandte in Aleppo. Und sie klagen über die Einöde hier, die Langeweile, das Warten.