Kino-Film «The Other Side of Hope»: Obdach für die Abgehängten

Nr. 13 –

Schönheit und Widerstand: Aki Kaurismäki holt in seinem neuen Film einen geflüchteten Syrer in eine finnische Kneipe – und baut eine ganze Gegenwelt, die Einspruch erhebt gegen die Zumutungen der Gegenwart.

Da ist ein Mensch, der Hilfe sucht: Khaled (links) erhält in der Kaschemme von Waldemar Wikström (mit Schnapsglas) eine Arbeitsstelle. Still: Malla Hukkanen, Sputnik Oy

Das Bild ist fast ganz dunkel, aber etwas bewegt sich: ein Mann mit eingeschwärztem Gesicht. Er hat zwischen Kohlen gelegen, wischt sich jetzt den Staub aus dem Gesicht und steigt in die Stadt, ins Licht, in den Film hinein. Khaled (Sherwan Haji), die Hauptfigur von Aki Kaurismäkis neuem Film, «The Other Side of Hope», kommt buchstäblich aus dem Nichts, schon der erste Auftritt kennzeichnet ihn als ein reines Kinogeschöpf. Gleichzeitig allerdings ist Khaled Syrer, er ist aus dem zerbombten Aleppo geflohen, hat bis auf eine verschollene Schwester seine ganze Familie verloren und hofft nun, nach einer langen, beschwerlichen Odyssee durch halb Europa, im liberalen Finnland Schutz zu finden.

Und das ist das Tolle an «The Other Side of Hope»: Wie bereits im Vorgängerfilm «Le Havre» (2011) gelingt es Kaurismäki auch diesmal scheinbar mühelos, eines der zentralen Themen der Gegenwart – die sozialen Verwerfungen im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise – in sein über die Jahrzehnte etabliertes persönliches Kinouniversum zu integrieren, ohne dass sich das auch nur irgendwie falsch oder obszön anfühlen würde. Zum Vergleich muss man sich nur einmal Jacques Audiards auf den ersten Blick ähnlich gelagerten Cannes-Siegerfilm «Dheepan» (2015) in Erinnerung rufen, um die politische Integrität und ästhetische Sorgfalt von «The Other Side of Hope» zu würdigen. Wo Audiard seine Migrationsgeschichte bei jeder Gelegenheit mit Bürgerkriegstrauma-Rückblenden und sozialvoyeuristischen Ghettoimpressionen aufmotzt, genügt Kaurismäki eine einzige Einstellung, in der er Khaled direkt vor die Kamera stellt und ihn seine Leidensgeschichte nacherzählen lässt. Da ist ein Mensch, der Hilfe sucht – mehr muss man über ihn gar nicht wissen.

Spinnweben und Dosenfisch

Khaled beantragt also Asyl. Das offizielle, behördliche Finnland schickt sich schnell an, den Neuankömmling mit unterkühlter Freundlichkeit wieder ausser Landes zu weisen, zurück in den Bürgerkrieg. Aber zum Glück kommt ihm, nachdem er aus der Abschiebehaft geflohen ist, ein anderes Finnland zu Hilfe: das Kaurismäki-Finnland, das in «The Other Side of Hope» die Gestalt eines heruntergewirtschafteten Restaurants namens «Zum goldenen Krug» annimmt. Waldemar Wikström, seiner bürgerlichen Existenz überdrüssig, hat diese Kaschemme gerade übernommen, mitsamt Vintage-Interieur und Vintage-Belegschaft. Auf dem Speiseplan steht nicht viel mehr als Dosenfisch, und der Koch droht von Spinnweben überwuchert zu werden. Als Wikström (gespielt von Sakari Kuosmanen, einem Lieblingsschauspieler Kaurismäkis) eines Tages Khaled vorfindet, schlafend neben den Mülltonnen, stellt er ihn ebenfalls ein – Aussenseiter erkennen einander in der Kaurismäki-Welt: an ihren verlebten Gesichtern und zerknautschten Kleidern, an den Liedern, die sie singen.

Die Ereignisse, die der finnische Meisterregisseur um diese Konstellation herum konstruiert, könnten einem (ziemlich düsteren) Sozialdrama entstammen, aber die gleichzeitig souveräne und spielerische Inszenierung verschiebt sie durchweg ins leicht Märchenhafte. Besonders Khaled hat in seiner sanften, weltverlorenen Art etwas Ausserweltliches an sich, in einigen Szenen bewegt sich Sherwan Haji fast geisterhaft schwebend durch den Film – was freilich nicht heisst, dass die Schläge, die er in der Tiefgarage von finnischen Faschisten kassiert, nicht schmerzen würden. «The Other Side of Hope» pendelt, wie man das von früheren Kaurismäki-Filmen kennt, zwischen atmosphärischen Alltagsbeobachtungen (immer wieder: nachdenkliche Raucher auf Balkonen) und skurrilem Deadpan-Humor hin und her – wobei die Komik inzwischen in eher homöopathischer Dosierung in das Kaurismäki-Kino dringt, der Grundton ist dezidiert melancholisch.

Es quietscht, knarzt und klappert

Länger als die Geschichte bleiben von diesem Film freilich Dinge, Orte, Texturen, Geräusche in Erinnerung. Tapeten, die aussehen, als seien sie seit den sechziger Jahren nicht mehr gewechselt worden; schwere Vorhänge, deren Zigarettengeruch man förmlich zu riechen meint; ein bizarr grosser Kaktus auf einem kleinen, klapprigen Tisch. Das Quietschen einer schlecht geölten Tür; das Knarzen einer rostigen Rolltreppe; das rabiate Klackern einer altmodischen Schreibmaschine, die wahrscheinlich nur noch in Kaurismäki-Filmen zum Inventar von Polizeistationen gehört. Das sind die oft etwas unförmigen und doch immer wieder erstaunlich eleganten Rohstoffe, aus denen Kaurismäki nicht nur einen Film, sondern eine ganze Welt aufbaut; eine Gegenwelt, die störrisch Einspruch erhebt gegen die Zumutungen einer stromlinienförmigen Moderne, in der man über Menschen vermittels von Kosten-Nutzen-Rechnungen verfügt. Diese Gegenwelt ist das einzig mögliche Zuhause der Kaurismäki-Figuren: Abgehängte, Aussenseiterinnen, Übersehene. Rumtreiberinnen, Musiker, jetzt auch Flüchtende.

Kaurismäki ist als ironischer Humanist und als einer der letzten Vertreter des klassischen europäischen Autorenkinos selbst ein Relikt, ein Traditionalist im besten Sinn. «The Other Side of Hope» hat er auf analogem Filmmaterial gedreht, in einigen ausgewählten Kinos (leider nicht in der Schweiz) wird er sogar noch ab 35-mm-Kopien gezeigt. Das ist in diesem Fall kein blosser Gimmick – die warmen Farben und das flirrende Korn des Zelluloidmaterials passen sich perfekt ein in einen Film, der sich auf allen Ebenen, ästhetisch wie politisch, den Widerständen und Schönheiten des Übriggebliebenen, Veralteten, scheinbar Überkommenen verschreibt.

Ab 30. März 2017 im Kino.

The Other Side of Hope. Regie und Drehbuch: Aki Kaurismäki. Finnland/Deutschland 2017