Durch den Monat mit Wilfried N’Sondé (Teil 2): Wie verhindert man den Sieg von Le Pen?

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In Frankreich findet am 23. April die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen hat dabei gute Chancen, die meisten Stimmen zu erhalten – vor allem, weil alle anderen Parteien völlig diskreditiert sind, sagt der Autor und Musiker Wilfried N’Sondé.

Wilfried N’Sondé in Montmartre: «In Frankreich erzählt man uns seit dreissig Jahren: Stimmt für uns, sonst kommt Le Pen an die Macht.»

WOZ: Wilfried N’Sondé, wie beurteilen Sie die politische Lage in Frankreich?
Wilfried N’Sondé: Es ist erschütternd. Ich habe das Gefühl, dass die Politik sich unglaublich weit von der Bevölkerung entfernt hat.

Warum ist das so?
Wenn das jemand wüsste! Ich weiss es nicht, ich stelle es nur fest. Politik ist eine Show geworden, ein Spiel. Dabei geht es doch um das Leben von Millionen, und das ist kein Spass. Nehmen Sie François Fillon, den konservativen Präsidentschaftskandidaten. Es ist eine Katastrophe, wenn ein Politiker sagt: Wenn ich Schwierigkeiten mit der Justiz bekommen sollte, dann lege ich meine Kandidatur nieder. Und dann ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Fillon wegen seiner Affären, und er bleibt trotzdem. Das ist nicht nachzuvollziehen.

Solche Skandale nützen vor allem den Rechtspopulisten. Die Lage ist bedrohlich, der Front National von Marine Le Pen könnte die Wahlen gewinnen …
Ich würde es so formulieren: Le Pen ist nicht besonders stark, vielmehr sind die anderen mittlerweile extrem schwach.

Aber Marine Le Pen könnte bis zu dreissig Prozent der Stimmen bekommen.
Ja, weil die anderen total diskreditiert sind!

Gehen Sie denn wählen?
Ich gehe nicht wählen! Was soll ich denn auch wählen?

Sie gehen selbst dann nicht wählen, wenn Le Pen in die Stichwahl kommen sollte?
Die Lage ist doch tragikomisch. Die Linken sagen: Die Gefahr, dass Le Pen gewinnt, ist so gross, wir müssen etwas tun! Aber meinten sie das ernst, müssten sie doch geschlossen bei der Wahl antreten. Wenn Sie addieren, wie viel Prozent der sozialistische Kandidat Benoît Hamon und wie viel Prozent der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon bekommen werden, ist das in der Summe mehr als das, worauf Le Pen hoffen kann. Aber trotzdem einigen sie sich nicht. Deswegen glaubt keiner mehr den Linken, wenn sie sagen, dass Le Pen eine so grosse Gefahr sei. Es ist eine konfuse Situation. Und die eigentlich stärkste Partei – diejenige der Nichtwähler – wird einfach nicht berücksichtigt.

Gut, aber die gehen nun mal auch nicht wählen.
Ja, aber die Parteien könnten doch auf die Idee kommen, dass man etwas ändern müsste, damit diese Leute wieder wählen gehen!

Selbst wenn es gilt, die Gefahr eines Le-PenSiegs abzuwenden, wollen Sie nicht wählen?
Wissen Sie, das erzählt man uns in Frankreich seit dreissig Jahren: Stimmt für uns, sonst kommt Le Pen an die Macht. Und dann machen wir das, und die anderen kommen an die Regierung, und was passiert? Nichts!

Angenommen, Le Pen würde gewinnen: Was würden Sie am Abend der Stichwahl am 7. Mai tun, wenn Sie zu Hause sitzen und im Fernsehen den Jubel beim Front National sehen?
Am 7. Mai bin ich glücklicherweise in Berlin (lacht). Es spielt nicht so eine grosse Rolle, wer gewinnt – entscheidend ist doch, was der- oder diejenige dann wirklich macht. Man müsste schauen, was Le Pen überhaupt durchsetzen kann. Aber die eigentliche Frage ist doch: Wie können wir als Gesellschaft die Probleme lösen, die sich uns stellen?

Wo sehen Sie konkrete Ansatzpunkte?
Es scheint zu sein wie in der Wissenschaft: Je weiter man voranschreitet, desto mehr Fragen stellen sich. Man müsste also innehalten und darüber nachdenken, was denn genau die Probleme Frankreichs sind. Zum Beispiel haben wir seit knapp vierzig Jahren eine strukturelle Arbeitslosigkeit. Keine Regierung hat es geschafft, dagegen etwas zu tun. Deshalb sage ich: Setzen wir uns doch erst mal zusammen und überlegen wir, was wir da tun könnten! Aber was passiert? Es wird gestritten! Vor den Wahlen gibt jeder vor zu wissen, was zu tun ist, aber danach passiert dann nichts.

Was könnte man denn machen?
Ach, ist es denn wichtig, was ich darüber denke? Ich bin es leid, dauernd mit Leuten konfrontiert zu sein, die behaupten zu wissen, was man tun müsse. Es interessiert mich nicht, wenn Emmanuel Macron sagt: Ich habe die Lösung! Und dann Le Pen widerspricht: Nein, ich habe die Lösung! Das ganze System muss sich weiterentwickeln, damit alle Menschen ordentlich leben können. Und das müssen wir als Gesellschaft schaffen. Wie wir das schaffen? Ich weiss es nicht. Aber ich bin nicht der Einzige, der es nicht weiss, und zumindest gebe ich es zu. Wir müssen offen sein für Neues. Nehmen Sie das bedingungslose Grundeinkommen: Ich kann nicht beurteilen, ob das wirklich gut oder schlecht ist, aber ich finde es gut, wenn über solche Ideen diskutiert wird.

Der Sozialist Hamon fordert ja die Einführung eines solchen Grundeinkommens.
Ja, aber die Politiker diskutieren nicht mit offenen Karten. Mein Ideal einer politischen Debatte ist, dass man konstruktiv diskutiert, einander zuhört und die Argumente abwägt. Mich interessiert nicht, wer Präsident wird. Mich interessiert, dass mehr Leute in Frankreich gut leben können. Das ist doch entscheidend.

Wilfried N’Sondé (48) war vergangenen Herbst «Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. Letzte Woche wurde er zum vierten Mal Vater.