Durch den Monat mit Wilfried N’Sondé (Teil 1): Wie ist es, in einem Problemviertel aufzuwachsen?

Nr. 14 –

In den vergangenen Monaten machten Fälle von Polizeigewalt in den Pariser Banlieues Schlagzeilen und riefen wiederum teils gewalttätige Proteste der BewohnerInnen hervor. An der Lage in den sozialen Brennpunkten hat sich seit Jahrzehnten nichts geändert, kritisiert der französische Schriftsteller und Musiker Wilfried N’Sondé.

Wilfried N’Sondé: «Man kann auch in einem Problemviertel gut leben, solange man nichts mit Drogen zu tun hat und sich ans Gesetz hält.»

WOZ: Wilfried N’Sondé, Sie sind in Kongo-Brazzaville geboren und mit vier Jahren mit Ihren Eltern von der Hauptstadt Brazzaville in eine Pariser Banlieue gezogen. Was hat Ihre Eltern bewogen, nach Frankreich zu kommen?
Wilfried N’Sondé: Mein Vater bekam damals ein Stipendium, dank dessen er sich hier als Keramiker und Maler weiterbilden konnte. Da diese Ausbildung vier Jahre dauerte, durfte er Frau und Kinder mitnehmen.

Das war jedenfalls der offizielle Grund. Aber mein Vater bemerkte zugleich, dass die Korruption in der Republik Kongo immer schlimmer wurde, gerade im Schulsystem. Er wollte uns Kindern ermöglichen, in einem besseren Umfeld aufzuwachsen und in Frankreich zur Schule zu gehen. Deshalb sind wir nach den vier Jahren geblieben.

Sie sind heute noch manchmal in Afrika?
Seitdem ich Schriftsteller bin, also etwa seit 2007, bin ich etwa dreimal im Jahr in Afrika. Das letzte Mal, als ich in Brazzaville war – das war im vergangenen Jahr am 4. April – bin ich nur 24 Stunden geblieben, weil es Unruhen gab. Ich blieb in meinem Hotel am Flughafen und kehrte gleich wieder zurück nach Paris.

Ihre Eltern konnten damals einfach in Frankreich bleiben?
Ja, wir kamen 1973 an. Damals war Frankreich noch ein offizielles Einwanderungsland. 1982 wurden wir dann eingebürgert.

Sie haben also einen französischen und einen kongolesischen Pass?
Nein, ich habe keinen Pass der Republik Kongo, und ich möchte ihn auch nicht haben. Dieser Staat ist sowieso ein Witz!

Inwiefern?
Aus meiner Perspektive ist das kein richtiger Staat. Dort herrscht eigentlich eine Mafia.

Wo hat Ihre Familie in Paris gelebt?
Im Vorort Melun, etwa vierzig Kilometer südöstlich von Paris.

Und welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit dort?
Es war schön! Wir lebten in einer Sozialwohnung, aber es war schön.

Es war kein sogenanntes Problemviertel?
Es war schon ein Problemviertel. Es gab dort Leute, die mit Drogen handelten, es gab auch Gewalt. Aber es war nicht so, dass ich darunter gelitten hätte. Man kann auch in einem Problemviertel gut leben, solange man nichts mit Drogen zu tun hat und sich ans Gesetz hält.

Waren Sie ein guter Schüler?
Ich war ein sehr guter Schüler und habe ein tolles Abitur geschrieben (lacht).

Im Ernst?
Ja doch! Ich war sehr gut und sehr brav. Die Schule hat mir gefallen. Ich habe gerne gelernt. Und ich lerne auch heute gerne Neues.

Sie studierten danach an der Sorbonne?
An der Sorbonne und an der Uni von Nanterre, im Westen von Paris: Politologie.

Aber das ist doch nicht selbstverständlich, dass ein Einwandererkind die Uni besucht, oder?
Das hat wohl wenig damit zu tun, ob man aus einer Einwandererfamilie kommt oder nicht. Entscheidend ist, ob du aus einer Familie stammst, in der Bildung als etwas Wichtiges und Positives betrachtet wird. Und für meine Eltern war Bildung sehr wichtig. Entscheidend ist nicht die Herkunft, sondern eher das, was man die «Familienphilosophie» nennen könnte.

Ist es denn nicht so, dass Kinder aus ärmeren Familien in der Schule oft ausgesiebt werden?
Ich würde sagen, dass das Bildungssystem in Frankreich wie auch in Deutschland allen Kindern Chancen bietet. Es ist nicht optimal, aber wenn du dich in der Welt umsiehst, findest du fast kein vergleichbares System. Zugleich muss man schon schauen, aus welcher Schicht jemand stammt, um zu verstehen, warum es manche schaffen und manche eben nicht.

In den vergangenen Wochen gab es in Paris wiederholt Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus. Anlass war der brutale Angriff von vier Polizisten auf Théo Luhaka, einen 22-jährigen Schwarzen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Welche Entwicklung denn? Solche Fälle gibt es seit vierzig Jahren, seitdem ich denken kann! In den Achtzigern ist ein Kongolese auf einem Polizeirevier erschossen worden. Auf der anderen Seite verbrannten im vergangenen Jahr Polizisten, nachdem ihr Einsatzwagen mit einem Molotowcocktail angegriffen worden war. Dieser Fall ist schrecklich, der Fall Théo ist es genauso. Das Problem ist die Gewalt. Mir tut Théo sehr leid, aber mir tun auch die Polizisten leid, die ihren Job gemacht haben und dann verbrannt werden – das ist eine Katastrophe!

Aber es gibt doch auch strukturelle Gewalt, die weniger sichtbar ist: die vielen Menschen, die in den Vororten leben, keinen Job und keine Perspektive haben …
Ja, das ist so. Das Viertel von Théo kenne ich gut, früher verbrachte ich oft meine Schulferien dort – bei meinen Cousins. Ich war sechs, als ich zum ersten Mal dort war. Über vierzig Jahre später hat sich in diesem Viertel nichts geändert. Nichts.

Wilfried N’Sondé (48) lebt in Paris. Bekannt wurde er 2007 mit dem preisgekrönten Roman «Das Herz der Leopardenkinder», einer in einem Pariser Vorort angesiedelten Liebesgeschichte.