Insekten essen: Tausend Tiere auf einem Teller

Nr. 16 –

Für einmal ist die Schweiz schneller als die EU: Ab dem 1. Mai dürfen Grillen, Heuschrecken und Mehlwürmer aufgetischt werden. Das ist unter anderem einem jungen HSG-Absolventen zu verdanken – und der Wirkung des Wörtleins «nachhaltig».

Heimchenzucht in den Niederlanden: Das Endprodukt dürfte eher eine teure Delikatesse sein als eine Alternative zur herkömmlichen Fleischproduktion. Foto: Ton Koene, Alamy

Es ist ein grossartiger halbprivater Anlass von ökologisch engagierten Leuten irgendwo in Zürich. Wir sitzen an langen Tischen und sind so hungrig wie neugierig. In der Einladung war angedeutet, was aufgetischt würde: Auf einem Bild waren Würmer auf einem Teller zu sehen, und unter dem Titel «Zukunftsmetzgete» fand man den Namen Essento. So heisst das junge Unternehmen, das sich im Internet mit dem Slogan «Essbare Insekten auf den Tisch» präsentiert.

Zwischen zwei Gängen – man hat soeben eine nussig schmeckende, sehr leckere Vorspeise vertilgt – erhebt sich Christian Bärtsch. Der jugendliche Mitgründer des Start-ups setzt zu einem kurzen Vortrag an. Er vergleicht den Ressourcenverbrauch der Insektenproduktion mit jenem der Rindfleischproduktion: «Mit gleich viel Futter kann bis zu zehnmal mehr Insektenfleisch gewonnen werden.»

Nachhaltiger essen?

Ein paar Wochen später treffen wir uns erneut in Zürich, diesmal in einem Haus, in dem viele junge Kreative an neuen Ideen arbeiten. Christian Bärtsch verliert keine Zeit, um die Botschaften seines Unternehmens zu platzieren – in kürzester Zeit verwendet er den Begriff «nachhaltig» siebenmal.

Auf die Geschäftsidee gekommen sind Bärtsch und sein Partner während des Wirtschaftsstudiums an der Universität St. Gallen: «Wir fanden, dass Insekten als Nahrung ein enormes Potenzial haben. Die Akzeptanz von Insekten als Lebensmittel habe ich dann zum Thema meiner Masterarbeit gemacht. Die Motivation dahinter ist, dass wir nachhaltiger essen möchten.»

Bald aber mussten die beiden feststellen, dass in der Schweiz das kommerzielle Anbieten von Insekten als Lebensmittel nicht erlaubt ist. Plötzlich wirkte der Weg steinig. Doch dann lernten sie die grünliberale Nationalrätin Isabelle Chevalley kennen – und organisierten mit ihr 2014 im Bundeshaus einen ersten Insektenapéro.

Die ursprüngliche Idee, das Essen von Insekten zu fördern, basiert auf einem Bericht der Lebensmittel- und Landwirtschaftsorganisation FAO der Uno von 2013. Darin propagiert sie Insekten als zukunftsträchtiges Nahrungsmittel: «Der ökologische Nutzen des Züchtens von Insekten für Essen (Menschen) und Futter (Tiere) liegt in der effizienten Umwandlung dessen, was man ihnen zu fressen gibt.» Bei einer Zucht von Heimchen beziehungsweise Grillen etwa brauche es nur zwei Kilo Futter, um ein Kilo Gewichtszunahme zu erreichen – ein Schwein braucht etwa drei Kilo. Die Insekten verursachten zudem weniger CO2 und benötigten viel weniger Land und Wasser als die Viehzucht.

Kürzlich gab es auch an der ETH in Zürich eine Ausstellung zur Zucht und zum Essen von Insekten. In Glasvitrinen krabbelten und wanden sich die drei nun zum Verzehr zugelassenen Wirbellosen: Heimchen, die Europäische Wanderheuschrecke sowie Mehlwürmer. Daneben lagen auf den Korpussen Plakate, auf denen zu lesen war, dass Mehlwürmer fast zehnmal weniger Treibhausgase ausstossen würden als Rinder – und darum auch fast zehnmal klimafreundlicher seien als Rindfleisch.

Das stimmt allerdings nur beschränkt: Denn dabei geht komplett vergessen, dass die Weiden, auf denen Kühe idealerweise grasen, einen treibhausgasreduzierenden Effekt haben (siehe WOZ Nr. 51+52/2016 )

Auch das Argument, die Produktion von einem Kilo Insektenfood benötige zehnmal weniger Land als die Erzeugung von einem Kilo Rindfleisch, greift zu kurz: Insekten, die zu Millionen in Plastikbehältern wachsen, können kein Treibhausgas binden und dienen auch nicht der Biodiversität.

Insekten im Nationalrat

Dass es Alternativen zur ressourcenverschleissenden Massentierhaltungsindustrie braucht, steht ausser Frage. Nach Meinung der FAO könnte das Essen von Insekten durchaus einen relevanten Beitrag zur zukünftigen globalen Ernährungssicherheit und zu mehr Nachhaltigkeit in der Nahrungsmittelproduktion leisten. Die Organisation der Vereinten Nationen sagt aber auch, dass es dazu noch viel Forschung brauche – und gesetzliche Rahmenbedingungen auf internationaler Ebene.

«Wir sind Pionierin in Europa», sagt die grünliberale Nationalrätin Isabelle Chevalley, «als erstes europäisches Land haben wir eine gesetzliche Grundlage, die die Produktion und Verarbeitung von Insekten zur Verwendung als Lebensmittel regelt.»

Dazu genügten drei Interpellationen von Chevalley im Nationalrat. Es brauchte nicht einmal eine Gesetzesänderung und keine parlamentarische Debatte. Da das Lebensmittelrecht vor nicht langer Zeit völlig überarbeitet worden war, mussten sowieso alle dazugehörigen Verordnungen angepasst werden. Die drei Insektenarten konnten so elegant in die «Verordnung über neuartige Lebensmittel» aufgenommen werden. Am 1. Mai tritt sie in Kraft – womit dann die Insekten zum Verzehr freigegeben sind. Die Insektenlobby hat zudem erkämpft, dass die drei Insektenarten ganz oder zu Mehl verarbeitet angeboten werden dürfen – erst dadurch lässt sich überhaupt ein Burger produzieren.

Geht es um ethische Aspekte, landet man zwangsläufig bei Fragen des Tierwohls und des Tierschutzes (vgl. «‹Insekten können nicht schreien›» im Anschluss an diesen Text). Die verarbeiteten Tiere, aus denen Bärtschs Firma Insektenburger produziert, die ab Mai im Coop gekauft werden können, stammen aus Belgien und den Niederlanden: «Da darf bereits gezüchtet werden. Die Insekten werden uns dann tiefgefroren geliefert», erklärt Bärtsch. Unter welchen Bedingungen sie dort gehalten werden, kann er aber nicht sagen – und will auch die Namen der Lieferanten nicht nennen: «Wegen der Konkurrenz.» Immerhin so viel sei gewiss: Die Tiere würden in Umgebungen gehalten, die ihrem natürlichen Umfeld entsprächen – Heuschrecken werden in Glaskästchen gezüchtet, die anderen Arten in dunklen und warmen Umgebungen gehalten.

Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen schreibt vor, dass die Tiere nur gefroren und hitzebehandelt in den Handel gebracht werden dürfen. Mit diesen Verfahren soll gewährleistet sein, dass allfällige Parasiten abgetötet werden.

Laut Bärtsch sind die eingekauften, unverarbeiteten Insekten teuer, ihre Endprodukte würden sich ebenfalls im High-End-Bereich bewegen: «Vergleichbar mit Kaviar oder einem Rindsfilet. Eine Delikatesse.»

Inzwischen geht es Essento auch nicht mehr darum, Fleischprodukte zu ersetzen, sondern weitere Essensoptionen anzubieten. «Klar möchten wir, dass weniger Fleisch gegessen wird», sagt der Jungunternehmer. «Aber Essen muss Spass machen. Der Zeigefinger ist nicht das, was Spass macht. Wenn jemand hin und wieder zum Insektenburger greift und dafür auf den Fleischburger verzichtet, haben wir unser Ziel erreicht.»

Dass der Insektenburger den Fleischburger kaum ersetzen wird, sieht auch Bärtsch so: «Indem wir das Insekt als Hauptgang auf den Teller bringen, können wir aber sicher einen Beitrag dazu leisten, dass der Fleischkonsum reduziert wird.»

Unter fragwürdigen Bedingungen

Für einen Burger werden viele Tiere unter Bedingungen sterben, von denen die Wissenschaft noch nicht sagen kann, ob sie in Ordnung sind. Beim derzeitigen Forschungsstand geht man davon aus, dass die Tiere während des Gefrierens in eine Kältestarre verfallen und sterben – ob sie dabei Schmerzen empfinden, ist wissenschaftlich noch nicht erforscht.

Weil uns die Wirbellosen nicht so nah sind wie Tiere mit runden Augen und Wimpern, wissen wir kaum etwas über ihre Schmerzempfindlichkeit. Und das Tierschutzgesetz gilt nicht für wirbellose Tiere.

Aktuell sind die drei Insektenarten übrigens ausschliesslich als Nahrung für den Menschen zugelassen, nicht als Futter für andere Tiere. Bärtsch begrüsst das, er kann nichts anfangen mit der Verfütterung von Insekten an Masttiere.

Noch einmal nimmt Christian Bärtsch den Begriff «nachhaltig» in den Mund. Betreffend das Tierwohl räumt er ein, dass er nicht wisse, ob die heutige Zucht optimal sei. Sobald man aber wissen sollte, dass die heutigen Zuchtbedingungen nicht artgerecht seien, müsse man sofort damit aufhören, sagt er. Und fügt hinzu: «Denn ja: Wir wollen Gutes tun.»

Na dann, guten Appetit!

Tierethik : «Insekten können nicht schreien»

Warum gilt für Insekten kein Tierschutzgesetz? Und wie lässt sich ihre Verarbeitung zu Lebensmitteln ethisch beurteilen? Ein Gespräch mit Thomas Potthast, Ethikprofessor an der Universität Tübingen.

WOZ: Herr Potthast, Anbieter von Insekten als Lebensmittel behaupten, Insekten böten die ökologischere Speise als Kühe, Schweine, Hühner. Ist es also sinnvoll, Insekten zu essen?
Thomas Potthast: Ich halte es aus ethischer Sicht für zulässig und geboten, die Potenziale, die Insekten als Nahrung und Futtermittel bieten, auszuloten. Es gilt aber zu beachten, dass Insekten Tiere sind.

Wirbellose Tiere, die nicht dem Tierschutz unterstehen …
Ja, aber wir gehen davon aus, dass sie Empfindungen haben. Das Problem ist: Wir wissen überhaupt nicht, in welcher Weise man von Schmerzempfinden bei Insekten sprechen kann.

Wie tötet man Grillen oder Mehlwürmer tiergerecht?
Das weiss man eben nicht. Zudem ist der Kontext zu berücksichtigen: Wenn man sich überlegt, Insekten auch im grossen Stil als Futtermittel für Tiere einzusetzen – um den Sojaanbau zu reduzieren –, muss man sich fragen: Unterstützt man nicht einfach nur die aus vielen Gründen problematische industrielle Fleischproduktion und -konsumption, die wir schon haben?

Warum gilt für Wirbellose das Tierschutzgesetz nicht? Man sagt, das Nervensystem von Wirbeltieren sei sehr viel komplexer organisiert als das von Insekten, weil wir bei Wirbellosen nicht die Reaktionen sehen und hören, wie sie Wirbeltiere zeigen. Die meisten tendieren deshalb dazu, zu sagen, Insekten hätten ein deutlich geringeres Schmerzempfinden. Man könnte sie also entzweischneiden, und sie würden keine Reaktion zeigen?
Genau, denn sie können beispielsweise nicht schreien. Sie verhalten sich anders als Säugetiere. Aber richtig überzeugend ist das nicht.

Ist das eine relevante Unterscheidung für Leute, die sich vegetarisch oder vegan ernähren?
Wenn es mir als Vegetarierin oder als Veganer um Tiere geht, kann es diese Abstufung nicht geben, dann ist der Fall klar. Interessant wird es aber bei Fleischessenden. Sie können sich sagen: Wenn Insekten tatsächlich weniger Schmerz empfinden, wäre es ja vielleicht auch aus diesem Grund vorzuziehen, Insekten statt Schweine oder Hühner zu essen. Die Debatte hängt davon ab, welchen moralischen Status ich allen oder gewissen Tieren zuweise.

Macht uns der Verzehr von Heimchen, Wanderheuschrecken und Mehlwürmern zu nachhaltigeren Konsumenten?
Nein, nicht einfach so. Denn die Frage ist, was sich sonst noch ändert. Vor allem geht es gar nicht entscheidend um direkten Konsum, sondern um Insekten als Proteingrundlage für die industrielle Massenproduktion von anderem Fleisch wie bisher. Solange die Insekten nur eine interessante Ergänzung der Speisekarte sein werden, ist kein Problem gelöst.

Interview: Esther Banz