Zukunft der Türkei: Die Macht der anderen Hälfte
«Die Parteien, die Staaten neu organisieren und Konkurrenten unterdrücken, waren nicht von Anfang an allmächtig. Sie nutzen einen historischen Moment, um ihren politischen Widersachern das politische Leben unmöglich zu machen», schreibt der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder in seinem Buch «Zwanzig Lektionen für den Widerstand».
Den historischen Moment zu nutzen gewusst hat Recep Tayyip Erdogan. Gemäss den offiziellen Zahlen haben sich am Sonntag 51,4 Prozent der TürkInnen für das Präsidialsystem entschieden, am Ende lagen Sieg und Niederlage nah beieinander. Das wahre Ergebnis dieser unfairen Wahl werden wir vermutlich nie erfahren.
Der vermeintliche Sieg ist für Erdogan im Grunde eine Niederlage. Er brachte die Medien unter seine Kontrolle, verhängte den Ausnahmezustand, er steckte zahllose KritikerInnen, darunter die Führung der linken HDP, ins Gefängnis und nutzte für seine Ja-Kampagne sämtliche staatlichen Mittel. Auch die Abstimmung selbst verlief nicht reibungslos, die OSZE kritisiert, dass noch am Sonntag die Regeln geändert wurden, die Opposition spricht von Manipulation und erkennt das Ergebnis nicht an.
Trotz allem konnte Erdogan nur eine äusserst knappe Mehrheit hinter sich scharen. Die grossen Städte haben gegen seine Politik der Angst gestimmt, die Oppositionshochburg Izmir genauso wie Ankara und Istanbul, wo die AKP seit Jahren nicht verloren hat.
Zwar haben in den kurdischen Gebieten im Vergleich zur letzten Wahl weniger Menschen gegen Erdogan gestimmt (was angesichts der Vertreibung Hunderttausender und der Zerstörung ganzer Stadtviertel nicht verwundert). Dennoch hat dort eine Mehrheit der Einmannherrschaft mutig eine Absage erteilt. Und auch Erdogans eigene Basis bröckelt.
Mit dem Übergang zur unkontrollierten Präsidialherrschaft ist die türkische Republik, die Mustafa Kemal Atatürk vor beinahe hundert Jahren ausgerufen hatte, Geschichte. In ihren schlimmsten Zeiten war sie zutiefst autoritär: mit einer übermächtigen Armee, nationalistischer Ideologie, einem erbarmungslosen Krieg gegen die KurdInnen und Repressionen gegen KritikerInnen, mit grenzenlosem Kult um die Person des Republikgründers. Doch trotz der Probleme und demokratischer Defizite war die Republik säkular, die progressive Entwicklung immer als Aussicht enthalten. Das ist mit dem islamisch-religiös geprägten, autoritären Präsidialsystem vorbei.
Zurück bleibt nun eine tief gespaltene Türkei. Um den Machterhalt zu sichern, wird Erdogan kaum die Versöhnung suchen, wie auch die Ankündigung der Wiedereinführung der Todesstrafe demonstriert. Er wird umso härter gegen Andersdenkende vorgehen, auch in der eigenen Partei. Verkennen könnte er dabei die ökonomische Lage und das geopolitische Umfeld: Die boomende Wirtschaft und damit der soziale Aufstieg seiner WählerInnen ist ins Stocken geraten. Für seine Syrienstrategie, die sich gegen die KurdInnen richtet, hat er kaum internationale Unterstützung.
Während sich der türkische Machthaber nach Feinden umschaut, geistert ein Feindbild auch durch europäische Medien: der «Auslandstürke». In der Schweiz haben über sechzig Prozent der türkischen StimmbürgerInnen zu Erdogans Reform «Hayir», Nein, gesagt. Die anderen will so mancher möglichst bald zurück am Bosporus wissen. Nicht zuletzt nutzten Blätter wie der «Blick» das Referendum auch als Abgrenzungsmoment: gute gegen schlechte DemokratInnen. Doch zu meinen, die Haltung des Ja-Lagers habe mit der Mehrheitsgesellschaft nichts zu tun, wäre fatal. So konnte die Stärke der RechtsnationalistInnen kurz verdrängt werden, während deren Vorurteile erst noch bestätigt wurden. Wer es tatsächlich ernst meint mit der Demokratie, setzt sich für ein Stimm- und Wahlrecht für alle Anwesenden ein.
In der EU wird nun immer lauter gefordert, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stoppen. Doch statt Gräben zu vertiefen, sollten nun Brücken gebaut werden. Vor allem zu den (zumindest offiziell) beinahe fünfzig Prozent, die Erdogans autoritäre Politik ablehnen.
Seit Sonntag gehen sie in Dutzenden Städten zu Tausenden auf die Strassen, durch Istanbul weht ein Hauch von Gezi. Schon vor der Abstimmung bildete die Frauenbewegung den Kern des Widerstands. Genau wie die KurdInnen und andere progressive Kräfte muss sie unterstützt werden: durch klare Statements aus der Politik und Austausch auf allen Ebenen, durch Gespräche mit der Opposition. Vielleicht auch durch die längst überfällige Visafreiheit.
Timothy Snyders letzte Lektion trägt den Titel «Sei so mutig wie möglich». Der nächste Schritt auf dem Weg zur absoluten Macht ist die Präsidentschaftswahl 2019, die meisten Verfassungsänderungen treten erst dann in Kraft. Die Menschen in der Türkei, die voller Mut die Demokratie verteidigen, dürfen gerade jetzt nicht im Stich gelassen werden.