Das Abstimmungswochenende in der Türkei: «Wir sitzen in der Tinte»
In Izmir, der multikulturellen Grossstadt, war die Opposition gegen die Verfassungsreform besonders gross. Die Erdogan-GegnerInnen haben zwar Angst vor persönlichen Konsequenzen, aber zeigen sich dennoch kämpferisch.
Im Izmirer Stadtteil Alsancak flanieren die Leute wie jeden sonnigen Samstag auf dem Boulevard der Republik. Der grossspurige Name passt nicht ganz zur schmucklosen Strasse, die gesäumt ist von Betonbauten mit Dönerbuden und ein paar Banken, mit Läden für Haushaltsramsch oder billige Kleider.
Doch heute ist ein besonderer Samstag, der Tag vor dem Verfassungsreferendum. Kinder sind emsig dabei, den Flanierenden Flyer mit der Aufschrift «Hayir» (Nein) in die Finger zu drücken. Sämtliche Strassenlaternen sind mit Nein-Klebern bepflastert. Plakate, auf denen Recep Tayyip Erdogan für sein Präsidialsystem wirbt, wie sie andere Städte dominieren, sind in Izmir dagegen selten und in Alsancak sowieso.
Bunter, lustiger, lebendiger
Alsancak war zu osmanischer Zeit das griechische Viertel Izmirs. Wegen der GriechInnen und ihrer armenischen und jüdischen NachbarInnen nannten die Osmanen sie «Gavur Izmir», ungläubiges Izmir. 1922, ein Jahr vor Gründung der Türkei, setzte ein verheerender Brand dem multikulturellen Bevölkerungsmix ein Ende. Zehntausende GriechInnen und ArmenierInnen fielen dem wohl absichtlich gelegten Feuer zum Opfer. Andere ergriffen die Flucht vor den türkischen Nationalisten oder wurden von ihnen ins Meer geworfen.
Erdogan grub den Ausdruck «Gavur Izmir» 2009 wieder aus, um das säkulare Izmir zu schelten: weil die Bevölkerung ihm hier nicht huldigt und stattdessen vor allem die kemalistische Oppositionspartei CHP wählt und weil die Stadt renitent ist gegen seine konservative Prüderie – Transgender-Leute, Hippies, tiefe Décolletés, laute Musik und haufenweise Bars gehören besonders in Alsancak zum Strassenbild.
Abseits der Hauptstrasse mischen sich griechische Holzhäuschen unter die Betonblöcke, der Duft der Grillbuden weicht dem blühender Bitterorangenbäume und der Lärm der arabesken Popmusik den Rufen der Mauersegler. Serdar Türkmen sitzt in einem Strassencafé. Der Punkmusiker tingelt seit Wochen durch die Region, um auf Kundgebungen gegen die Verfassungsreform zu spielen. Der Abstimmung sieht er gelassen entgegen. Optimistisch stimmt ihn die Dynamik der Nein-Kampagne der letzten Monate. «Gezi lebt!», schwärmt er und erklärt, was den Kampf gegen die Verfassungsreform mit den Protesten gegen die Überbauung des Geziparks in Istanbul von 2013 verbindet: «Unsere zivilgesellschaftliche Kampagne ist viel bunter, lustiger und lebendiger als jede Parteikampagne.» Mit all den Leuten, die selbstgedruckte Flyer verteilten und mit ihren Hobbybands Nein-Lieder auf Facebook stellten, könnten sich die Leute identifizieren, mit alten Männern auf riesigen Plakaten nicht.
Natürlich seien die Oppositionsparteien strukturell massiv benachteiligt, sagt Türkmen. Ihm und vielen seiner MitstreiterInnen gehe es aber gerade auch darum, dem Anspruch Erdogans, aber auch der CHP, die Gesellschaft von oben herab zu gestalten, von unten das reale Leben entgegenzuhalten – «bunt und vielfältig». Viele Leute engagierten sich hier zum ersten Mal politisch. Von der CHP – die in Izmir einen WählerInnenanteil von 43 Prozent hat und landesweit die grösste Oppositionspartei ist – erwartet er nichts: «Die CHP hat sich bis heute auf den verbliebenen Privilegien ausgeruht.» Sie sei trotz der drohenden Alleinherrschaft Erdogans noch immer nicht dazu bereit, etwa mit der prokurdischen HDP zusammenzuarbeiten. Umso wichtiger sei eine Versöhnung der Zivilgesellschaft, meint Serdar Türkmen.
Wehmütige Lieder
An diesem Abend laden FreundInnen der Social-Media-Aktivistin Dilan Tasdemir zum Essen ein. Ihr Haus liegt im kleinbürgerlichen Viertel Ücyöl. «Willkommen zum letzten Abendmahl», grüsst die Gastgeberin. Schwere Vorhänge schirmen von der Aussenwelt ab – oder vom Panoptikum, wie Tasdemir die türkische Öffentlichkeit nennt. Kindergeschrei vom benachbarten Spielplatz dringt dennoch in die Wohnung. Zu Tisch sitzen mehrheitlich UniversitätsdozentInnen oder solche, die es bis vor kurzem noch waren.
Zerrin Kurtoglu war Professorin für Philosophie an der Universität Izmir, bis sie im Januar gefeuert wurde. Dasselbe Schicksal ereilte 350 weitere AkademikerInnen, die wie sie im März 2016 das Manifest «Academics for Peace» gegen den Krieg in den Kurdengebieten unterzeichnet hatten. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 verloren über 5000 AkademikerInnen und insgesamt 100 000 Staatsangestellte ihre Stelle. Viele private Unis wurden geschlossen. In einem beschlagnahmten Gebäude der Sifa-Universität hat die AKP im März gar ihren neuen Hauptsitz in Izmir eröffnet. Aber auch das staatliche Institut für Philosophie stehe wegen Personalmangel vor dem Kollaps, sagt Kurtoglu. Die Entlassungswellen würden im staatlichen Amtsanzeiger verkündet. Eine Begründung oder Rekursmöglichkeit erhielten die Betroffenen nicht.
«Kafkaesk», sagt dazu Ayla Narin. Ihren richtigen Namen will die wissenschaftliche Mitarbeiterin nicht in der Zeitung lesen. Als Mitglied einer linken Gewerkschaft und Forscherin zum Kurdenkonflikt befürchtet die Soziologin, auf der nächsten Entlassungsliste zu stehen. 40 000 Namen solle diese umfassen.
«Sictik» bedeutet «Wir sitzen in der Tinte». Die Floskel wird an diesem Abend immer dann in die Runde geworfen, wenn betretenes Schweigen auftritt. Meist wird dann Raki nachgeschenkt, doch die Heiterkeit hält nie lange an. «Früher fürchteten wir um unseren säkularen Lebensstil», sagt Narin, wegen Erdogans Frömmelei. Der sei ein Gesellschaftsingenieur wie vor ihm nur Republikgründer Kemal Atatürk. «Seit der Ausnahmezustand herrscht, fürchten wir aber nicht mehr um unsere Art zu leben, sondern um unser Leben als solches.» Um die Gedanken an die frustrierende Politik zu vertreiben, werden Instrumente hervorgeholt. Die Runde stimmt wehmütige türkische, kurdische und arabische Lieder an und zählt die Stunden bis zur Eröffnung der Abstimmungslokale rückwärts.
Sonntagmorgen, Tag der Entscheidung. Meryem Cakmak ist seit 6 Uhr auf den Beinen. Die zierliche Frau um die fünfzig ist Koordinatorin der Beobachtungsmission der prokurdischen HDP. Sie wirkt müde, aber gut gelaunt. In einem alten Renault fährt sie von einem Abstimmungslokal zum anderen. Dort versorgt sie die BeobachterInnen mit Essen und versucht, Lücken in den Präsenzlisten zu schliessen. Acht Mitglieder ihrer Sektion seien diese Woche verhaftet worden, sie fehlten nun auch für die Beobachtungsmission.
Der Andrang im Quartier Yesilyurt ist gross, der Schulhof voller Menschen. Die Polizei ist kaum zu sehen, einzelne StimmbürgerInnen tragen offen oppositionelle Symbole, etwa das Bild des eingesperrten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas. Auch Cakmak erreichen bloss Berichte von kleineren Unregelmässigkeiten.
Am späten Nachmittag in der Abstimmungszentrale der HDP: Die Büros sind düster und muffig. Ein orange-weiss-grüner Rahmen verleiht dem Porträt Abdullah Öcalans etwas Heiterkeit. Mit der zunächst aufgeräumten Stimmung ist es aus, als erste Zahlen bekannt werden: Es zeichnet sich ein Erdrutschsieg Erdogans ab, obwohl in Izmir nur ein Drittel Ja stimmte. Im grössten Raum der Etage füllen sich die Ränge vor dem Fernseher. Flüche und Galgenhumor unterbrechen minutenlange Totenstille. Der Nein-Stimmen-Anteil am Bildschirm steigt zwar kontinuierlich an, und Berichte, wonach die staatliche Nachrichtenagentur falsche Zahlen verbreite, häufen sich – aber der Glaube an einen Sieg kehrt nicht in die Zentrale zurück.
«Ein Funke, und die Strasse brennt»
Gegenüber, in der Abstimmungszentrale der kemalistischen CHP, herrscht derweil Hochbetrieb. Männer mit Krawatten und Frauen in Deux-Pièces eilen durch die Gänge. Man rüstet sich für eine Medienkonferenz um 21 Uhr, beklagt dort Wahlbetrug und verlangt eine Neuauszählung. Doch inzwischen hat Premierminister Binali Yildirim bereits die Annahme der Verfassung verkündet und so Fakten geschaffen. Draussen setzen erste Hupkonzerte von Erdogan-Anhängern ein. Sie verstummen erst in den Morgenstunden.
Am Abend danach kommt es zum Wiedersehen mit Uniassistentin Ayla Narin in Alsancak. Aufgrund ihres Pessimismus am Samstag überrascht ihre kämpferische Haltung. «Für mich hat Erdogan verloren», meint sie: Angesichts des Ausnahmezustands, der massiven Unterdrückung der GegnerInnen, der finanziellen Übermacht und wahrscheinlicher Wahlfälschungen sei ein Anteil von 51 Prozent für Erdogan eine Schmach. Seine GegnerInnen, die er gegeneinander aufzuwiegeln pflege, müssten nun auf diesem gemeinsamen Erfolg aufbauen und aufhören, sich zu bekämpfen.
Für Narin ist Erdogan angezählt. Ihre Angst bändigt dies nicht. Gerade wenn Erdogan ins Wanken kommt, so befürchtet sie, steigen die Spannungen weiter an. «Ein Funke kann genügen, und die Strasse brennt.» Narin hat am Montag nach der Arbeit ihre persönlichen Gegenstände aus dem Büro mit nach Hause genommen. Wenn sie demnächst gefeuert wird, will sie keine Zeit verlieren und das Land verlassen, solange sie noch kann.