Mai 1917: Der tote Russ’ im Rhein

Nr. 18 –

Im Verhalten der Behörden gegenüber russischen Militärflüchtlingen im Ersten Weltkrieg zeichnete sich in der Schweiz ein fataler Wandel im Umgang mit «Fremden» ab – unter dem Eindruck von Nationalismus und Revolutionshysterie.

Zum Greifen nah schien das rettende Ufer. Auf die kleinen Inselchen mitten im Rhein hatten sie es geschafft, doch für die letzten Meter durch den kräftigen Strom fehlte ihnen nun der Mut. Es waren zwei russische Soldaten, die aus deutscher Kriegsgefangenschaft entflohen waren. Hier auf dem Grienkopf sollte an jenem 9. Mai 1917 ihr Fluchtversuch scheitern, damals, vor hundert Jahren, als in Europa bereits im dritten Jahr der Grosse Krieg tobte.

Als Erste entdeckten die Grenzgänger aus dem aargauischen Schwaderloch einen der beiden Flüchtlinge, als sie morgens um fünf mit der Fähre zur Tagschicht in der Papierfabrik im deutschen Albbruck übersetzten. «Von dieser Beobachtung machten wir im Badischen aber niemandem eine Mitteilung», gab einer der Arbeiter, Jakob Kohler, später zu Protokoll. Derweil versah Füsilier Castiglioni vom Infanteriebataillon 143 seinen Grenzdienst auf der Schweizer Seite. Auch er entdeckte einen der Russen. Castiglioni forderte ihn durch Zurufe auf, zu ihm herüberzuschwimmen. Dieser allerdings «antwortete deutlich vernehmbar, das Wasser sei zu tief und er des Schwimmens zu wenig kundig».

Um acht bemerkten schliesslich auch die deutschen Grenzposten einen der Flüchtlinge. Jakob Kohler wurde von der Werkbank gerufen und geheissen, zusammen mit einem bewaffneten Soldaten einen Weidling zum Grienkopf zu fahren. Kohler willigte ein «in der Annahme, es gelte einem halb verfrorenen Menschen Hilfe zu bringen». «Bei dem zweituntersten Inselchen angelangt», so sein Rapport, «kam uns ein mit Unterhosen, Hemd und Socken bekleideter Russe entgegen und nahm freudig im Schiffchen Platz.» Mittlerweile war auf der Schweizer Seite, vom Posten alarmiert, Leutnant Emil Nägelin zum Ufer hinabgestiegen. Er hatte die Szene beobachtet. Auf der oberen Insel sah er den noch unentdeckten Flüchtling ratlos auf- und niedergehen. Weil er dachte, «ganz bestimmt einem Menschen das Leben retten zu können», machte er die Deutschen auf ihn aufmerksam.

Lenins Verheissung

Nun nahm das Drama seinen Lauf. Abermals stiess der Weidling in den Rhein. Der deutsche Wachsoldat sprang vom Boot auf die Insel. Kohler sah ihn ins Gestrüpp treten. Derweil warf sich der Russe plötzlich auf einem aus zwei zusammengebundenen Blechkannen improvisierten Floss in den Fluss. Auf zehn Meter kam er ans schweizerische Ufer heran. Dann trieb ihn die starke Strömung zurück zu seinem Häscher. Kohler hörte einen Schuss krachen, sah eine Wassersäule aufspritzen. Der zweite Schuss aus dem Gewehr des Grenzers verfehlte sein Ziel nicht. «Der Kopf, der noch über Wasser war, ist sofort untergetaucht», beobachtete Nägelin bestürzt. Flussabwärts wurde die Leiche aus dem Wasser gezogen. Vehement empörte sich Kohler über die unnötige Mordtat. Hätte er nicht geschossen, «so wäre es auch nicht recht gewesen», entgegnete der deutsche Soldat.

Diese tragische Episode, festgehalten in den Einvernahmeprotokollen des Kompaniekommandos in Laufenburg, belegt mehr als die Tatsache, dass das Leben eines flüchtigen russischen Kriegsgefangenen wenig wert war im grausamen europäischen Bürgerkrieg. Die Geschichte um die beiden namenlosen Russen belegt auch die grosse Solidarität von Zivilbevölkerung und Milizsoldaten an der Grenze gegenüber der wachsenden Zahl an Flüchtlingen. Zahlreiche russische Kriegsgefangene flohen im Ersten Weltkrieg aus Lagern und Arbeitskommandos in Deutschland und Österreich-Ungarn in die Schweiz. Vor allem in den Sommermonaten kämpften sie sich einzeln oder in kleinen Gruppen über Rhein, Bodensee und Alpen. Denjenigen gegenüber, die sich nicht an die russische Gesandtschaft in Bern vermitteln lassen wollten, verfolgten die kantonalen Behörden damals noch eine liberale Aufnahmepraxis. Im Mai 1917, als sich insgesamt 77 Russen in die neutrale Schweiz retten konnten, schien sich schon eine eigentliche Massenbewegung abzuzeichnen.

Ganze acht Millionen Militärs aller kriegführenden Nationen befanden sich im Ersten Weltkrieg in Europa oft während Jahren in Gefangenschaft. In den Lagern herrschte Mangelernährung. Seuchen grassierten. Die Bedingungen für die grösste Gruppe, die russischen Bauernsoldaten, waren besonders prekär, auch weil sich ihre Regierung kaum um sie kümmerte.

Nun hatte im März 1917 ein Volksaufstand das Zarenregime hinweggefegt. Wladimir Lenin war aus dem Zürcher Exil ins revolutionäre Petrograd zurückgekehrt. Seine in der «Prawda» veröffentlichten «Aprilthesen» sprachen wohl auch Hunderttausenden Gefangenen aus dem Herzen: Lenin forderte die Rätedemokratie, einen bedingungslosen Friedensschluss, die Enteignung allen Grossgrundbesitzes und die Übergabe des Landes an die Bauernschaft. Vielleicht war es seine Parole «Friede – Freiheit, Land und Brot!» gewesen, die die beiden Russen zu ihrem Fluchtversuch ermuntert hatte, der bei Schwaderloch tragisch scheiterte.

«Unerwünschte Elemente»

Für die Schweizer Militärbehörden war der Zwischenfall im Rhein vorwiegend ein neutralitätspolitisches Problem. Castiglioni wie Nägelin wurden wegen ihrer «Einmischung in Vorgänge auf der deutschen Stromhälfte» scharf gerügt. In einem Kreisschreiben sah sich das Kommando Grenzdetachement Aargau veranlasst, die Truppe «neuerdings dahin zu instruieren», zur «Wahrung striktester Neutralität alle Regungen des Mitleids gegenüber Hülflosen in den Hintergrund treten zu lassen, solange nicht absolut feststeht, dass wir bei Handlungen, die dadurch ausgelöst werden, über unser Territorium nicht hinausgreifen». Die harschen Weisungen sind der Wahrung völkerrechtlicher Verpflichtungen geschuldet. Aus ihnen scheint aber auch der grundlegende Mentalitätswandel zu sprechen, der im Schicksalsjahr 1917 einen neuen Umgang mit dem «Fremden» markiert. Die Rede von der «Überfremdungsgefahr» dominiert nun zusehends den öffentlichen Diskurs.

Manifest wird diese Wende von einer relativen Freizügigkeit hin zur Abwehr von Zuwanderung im November 1917. Damals übertrug der Bundesrat per Notverordnung die Kontrolle der Einreise und des Aufenthalts von AusländerInnen von den Kantonen auf die neu geschaffene Eidgenössische Zentralstelle für Fremdenpolizei. Die damit einhergehenden Verschärfungen standen in einem europäischen Trend radikalnationalistischer Abgrenzung. Die fremdenfeindlichen Massnahmen waren dabei aber keine Reaktion auf einen gestiegenen Migrationsdruck: Die ausländische Bevölkerung war seit Kriegsbeginn im Gegenteil stark rückläufig. Die Fremdenpolizei sah gleichwohl im Kampf gegen die «Überfremdung» ihre vordringliche Aufgabe. Dabei galt es, «erwünschte Fremde» von MigrantInnen zu trennen, die als «nicht assimilierbar» und «wesensfremd» betrachtet wurden. In einer Zeit wirtschaftlicher Missstände und wachsender sozialer Spannungen wurden diese von rechtsbürgerlichen Kreisen zu Sündenböcken gestempelt.

Als «unerwünschte Elemente» galten den Behörden insbesondere ausländische Kriegsprofiteure wie Schieber und Wucherer, aber auch die wachsende Zahl fremder Kriegsflüchtlinge, etwa die bis Kriegsende rund 26 000 Deserteure, mehrheitlich aus Italien und Deutschland. Als Brandbeschleuniger fremdenfeindlicher Massnahmen wirkten die weltpolitischen Umwälzungen gegen Kriegsende. Mit der Oktoberrevolution 1917 rissen die Bolschewiki in Russland die Macht an sich. Ihr radikales Programm wurde nun in offizielle Regierungsdekrete umgemünzt. Mit dem Separatfrieden von Brest-Litowsk war der Krieg für die russischen Bauernsoldaten im März 1918 vorbei. Millionen kehrten in ihre Dörfer zurück. Die Kriegsgefangenen wurden allerdings wegen Transportproblemen und aus politischem Kalkül der Kriegführenden zurückbehalten. Immer mehr Russen flohen aus den Lagern in die Schweiz, wo sie auf unbestimmte Zeit festsassen. Weil sie sich von der neuen Regierung in Petrograd Hilfe für eine baldige Rückkehr erhofften und mit den Parolen der Bolschewiki sympathisierten, galten sie den Behörden als «revolutionär verhetzte Leute», die man «nicht frei herumlaufen lassen» könne.

Diffuse Revolutionsängste

Ab 1918 wurden die rund 1500 russischen Flüchtlinge deshalb zu schweren Land- und Bauarbeiten unter militärischem Kommando verpflichtet, bis ein Rücktransport möglich war. Aufgrund der harten Bedingungen kam es immer wieder zu Konflikten. Auf Proteste und Streikbewegungen in den Arbeitskompanien reagierten die Militärbehörden jeweils mit Gewalt.

Gleichzeitig verschärfte sich wegen der prekären Versorgungslage der Gegensatz zwischen Arbeiterschaft und Bourgeoisie in der Schweiz. Die klassenkämpferische Rhetorik von Sozialdemokratie und Gewerkschaften nährte die diffusen Revolutionsängste des Bürgertums. Das Zusammenspiel von aufgepeitschter Fremdenfeindlichkeit und Antikommunismus steigerte sich in die verquere These, diplomatische Emissäre der Bolschewiki und andere «ausländische Agenten» hätten den Landesstreik vom November 1918 angezettelt. Mittendrin in den Stürmen der Zeit waren die russischen Soldaten als «kulturfremde Halbasiaten» und «Bolschewiki-Freunde» ganz besonders «unerwünschte Gäste».

Eine Art von Tourismusförderung : Begehrte «Kriegsgäste» auf der «Friedensinsel»

Eine herzlichere Aufnahme als die russischen Militärflüchtlinge fanden insgesamt 67 000 kranke und verwundete Kriegsgefangene aus Deutschland, Frankreich und Britannien. Zwischen 1916 und 1919 wurden sie auf Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen während mehrerer Monate zu Erholungszwecken in den Kurorten der «Friedensinsel Schweiz» untergebracht. Die Internierung erfüllte den Zweck, Sinn und Nutzen der schweizerischen Neutralität öffentlichkeitswirksam gegen innen und aussen zu demonstrieren. Die Ankunft Kriegsversehrter und der mitfühlende Empfang durch die schaulustige Bevölkerung wurden als Medienspektakel inszeniert. Den «wohltätigen Samariterdienst» stellte die Eidgenossenschaft den kriegführenden Mächten wohlgemerkt auf Franken und Rappen genau in Rechnung. Zahlreiche seit Kriegsbeginn brachliegende Hotels und Sanatorien der Tourismusregionen wurden durch die Unterbringung der fremden Soldaten vor dem sicheren Konkurs gerettet.

Zwar geriet auch das «Liebeswerk der Internierung» in Kritik: Den Schweizer Männern missfiel das «allzu mildherzige» Verhalten ihrer Frauen gegenüber den «Kriegsgästen». Die Gewerkschaften monierten die Verdrängung einheimischer Erwerbstätiger durch die Arbeitseinsätze der Internierten. Als sich die Versorgungslage verschlechterte, sahen manche nicht ein, weshalb auch noch «fremde Mäuler durchgefüttert» werden müssten. Wegen seines wirtschaftlichen und politischen Nutzens wurde das humanitäre Engagement für die internierten Kriegsgefangenen allerdings nie prinzipiell infrage gestellt.

Thomas Bürgisser