Russen in der Schweiz: «Russenabschub» mit Radau

Nr. 23 –

Im Ersten Weltkrieg strandeten Tausende russische Soldaten in der Schweiz. Als sie das Land verliessen, kam es zu «Rencontres» mit dem Militär. Ein Auszug aus dem neuen Buch von Thomas Bürgisser.


In der Grenzstadt am Rheinknie kam es zum Eklat. Für den 28. April 1920 war ein letzter grosser Transport heimkehrwilliger russischer Soldaten und Zivilpersonen ab Basel vorgesehen. Ermöglicht wurde die Abschiebung über das nördliche Nachbarland durch ein Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrussland über die gegenseitige Heimschaffung der noch auf ihrem Gebiet verbliebenen Kriegsgefangenen. Etwa hundert Personen, zum allergrössten Teil ZivilistInnen, erreichten die Grenzstadt von Zürich kommend. Von Bern her kamen die Mitglieder einer Soldatenkolonie aus Wilderswil im Berner Oberland.

Am Vortag des Abtransports hatte die dortige Soldatengemeinde eine «einfache, aber wahrhaft von stolzem Geist getragene Feier» organisiert, wie der «Basler Vorwärts» aus Interlaken berichtete: «Russischer Sovietgeist belebte die enthusiastische Versammlung. Ein tiefer, feuriger Glaube an die neue Welt und an das neue Leben in Russland kam in glühenden Reden zum Ausdruck, der starke Wille, an der gewaltigen weltgeschichtlichen Zeitwende mitzuwirken.» Feierlich verabschiedete der russische Soldatenrat von Wilderswil eine Resolution, in der die Mitglieder gegenüber der Schweizer Arbeiterschaft ihre «brüderlichen Gefühle» bekundeten: «Wir haben bei unserm Aufenthalt im Ausland gesehen, dass der Kommunismus trotz allen Hindernissen, mit denen ihm der blutgierige Kapitalismus den Vormarsch verwehren will, lebt und gedeiht. Wir kehren nun als eine zur Einigkeit zusammengeschmiedete Kraft, wie wir das während unseres Schweizer Aufenthaltes gewesen sind, auf unsere heimatliche russische Erde zurück und werden mit verdoppelter Energie unsern Brüdern in Russland helfen, den Kommunismus durchzuführen. Dem verfaulten kapitalistischen System den Todesstoss zu versetzen und ein Fundament für die herrliche Zukunft des werktätigen Volkes der ganzen Welt zu schaffen, werden wir mithelfen. Hoch die Weltrevolution, hoch der Kommunismus!»

Rote Fahnen im Zug

Auf der Zugfahrt nach Basel schlossen sich den «Wilderswilern» weitere russische Soldaten an, die in der Westschweiz hospitalisiert gewesen waren oder gearbeitet hatten. Auch die Reise durch das Mittelland schien von «revolutionärem Geist» und der Freude auf die lang ersehnte Rückkehr in die Heimat getragen gewesen zu sein. Die Arbeiterpresse schilderte die Fahrt: «Revolutionäre Lieder erklangen, die geliebte rote Fahne mit den goldgestickten Insignien der Arbeiterrepublik, Sichel und Hammer, umgeben vom Aehrenkranz, flatterten aus den Fenstern des Zuges, und das rote Banner der Russischen Föderativen Sovietrepublik zog überall die Aufmerksamkeit auf sich, wo der Zug an Arbeitenden vorüberfuhr.»

Oberst Alfred Bodmer, der Chef der Abteilung für Transporte des Eidgenössischen Militärdepartements, der den Transport am Schweizer Bahnhof in Basel in Empfang nahm, war von dem feierlichen Einzug wenig begeistert: «Die Gesellschaft war hochgradig erregt, z. T. offenbar betrunken», berichtete er über den «Russenabschub». Vor allem die Sowjetfahne, die die Soldaten mit sich führten, erschien den Behörden anstössig. Der Forderung, «dass diese Embleme nicht entfaltet werden», kamen die Russen jedoch nicht nach. In der Folge kam es kurz nach der Ankunft des Zuges aus Bern zu «unliebsamen Scenen» und «kleinen Rencontres zwischen unseren Organen und den Russen». Der Bahnsteig war bei der Ankunft des Zuges vom Militär abgesperrt, um eine Kontaktnahme zwischen den Heimreisenden und einer Delegation der Basler Sozialdemokratie zu verhindern. Offenbar gerieten dabei nicht nur die ehemaligen Soldaten mit den Sicherheitskräften aneinander, sondern auch einige Zivilpersonen: «So biss z. B. ein exaltiertes Russenweib einem Feldweibel in den Arm, als er sie zum Gehen veranlassen wollte.»

Zornige Soldaten

Bei dieser Episode zwischen dem Schweizer Militär und den rückreisenden RussInnen wäre es wohl auch geblieben, wenn der Transport plangemäss hätte weitergeführt werden können. Die kurz zuvor begonnene polnische Hauptoffensive im Krieg mit Sowjetrussland machte es jedoch nötig, die Russen über den Seeweg heimzuführen. Das Problem bestand nun darin, dass Basel erst am Morgen aus Bern davon unterrichtet worden war, die holländische Regierung sei noch nicht bereit, den Zug zu übernehmen, da seine Weiterführung noch nicht sichergestellt sei. Da deshalb auch die deutschen Behörden die Einreise verweigerten, musste in Basel unter grossem Zeitdruck und auf unbestimmte Zeit ein Quartier für die rund 300 Menschen gefunden werden. Da in der Stadt gerade Mustermesse war, waren sämtliche Hotelzimmer ausgebucht. Die etwa 150 ehemaligen Soldaten wurden daraufhin an den Stadtrand gebracht und in der Quarantänestation des Hilfsspitals an der Burgfelderstrasse einquartiert, die Zivilpersonen wurden im Emigrantenhaus beim Bahnhof untergebracht.

Mit der Separierung von Militärs und Zivilisten erregten die Behörden abermals den Zorn der ehemaligen Soldaten. Wurden sie auch zwei Jahre nach Kriegsende von der öffentlichen Schweiz noch immer nicht als freie Bürger der Sowjetrepublik anerkannt? Der folgende Tag stand im Zeichen einer gewissen Deeskalation. Die russischen HeimkehrerInnen durften sich frei in der Messestadt bewegen und trafen sich mit Freunden und Bekannten aus der SP.

Am Morgen des 30. April erhielten die Behörden dann grünes Licht aus Amsterdam, und der «Abschub» wurde auf den Abend festgelegt. Dies führte aber wieder zu Proteststürmen der RussInnen. Bei ihren Treffen mit Basler SozialdemokratInnen hatten sie verabredet, gemeinsam den Tag der Arbeit zu begehen, sodass «alles darauf eingestellt worden war, den 1. Mai mitfeiern zu helfen in Basel». Die ehemaligen Soldaten zeigten sich besonders unzufrieden und wollten als Kompensation für die Demonstration zur Maifeier nicht mit Tramwagen zum Bahnhof transportiert werden, sondern von der Burgfelderstrasse aus «zu Fuss mit ihren Fahnen [...] marschieren, unter Absingung ihrer bekannten Gesänge». Die militärische Eskorte hatte jedoch den Befehl, «jegliche Demonstration auf offener Strasse unter allen Umständen zu verhindern». Missmutig gaben die Russen nach, nicht ohne darauf hinzuweisen, «sie wichen der physischen Gewalt, der ethische und moralische Sieg sei auf ihrer Seite».

Nach der Passabfertigung im Emigrantenhaus, in das die Soldaten dann doch, entgegen der Abmachung, «die Marseillaise singend [einge]zogen», wurden die 300 RussInnen für das «Einwagonieren» wieder zum Schweizer Bahnhof geführt, wo der «Scandal und Radau» erst richtig losging. VertreterInnen der Basler Sozialdemokratie und einige Jungburschen mit roter Fahne hatten sich dort versammelt, um von ihren Bekannten Abschied zu nehmen.

Zerbrochene Fahnenstange

Der «Basler Vorwärts» schilderte die folgenden «schweren militärischen Ausschreitungen» so: «Diese friedliche Demonstration und Verbrüderung scheint das militärische Kommando völlig aus der Fassung gebracht zu haben: es erteilte den Befehl, die Russen sofort mit Waffengewalt in die Waggons zu pferchen. Die Ausführung des Befehls erfolgte mit grösster Brutalität – mit Kolbenschlägen, gezückten Säbeln und vorgehaltenen Revolvern wurden die Russen, unter denen sich auch Kinder und Frauen befanden, zum Einsteigen in die Waggons gezwungen, wobei mehrere von ihnen leichte und einige sogar schwere Verletzungen davontrugen. Mit besonderer Wut stürzte sich die schweizerische Soldateska auf das Banner der russischen Sovietrepublik, welches die Russen mit sich führten. Im Kampfeseifer zerbrachen sie die Fahnenstange und zerfetzten das Fahnentuch.»

Die Parteiversammlung der Basler SP erhob denn auch offiziell scharfen Protest gegen die «Misshandlung wehrloser Genossen». Die Militärbehörden dagegen sahen sich überhaupt nicht in der Rolle des Aggressors. Die Fraternisierungsversuche der RussInnen mit den Basler SozialistInnen stiessen bei ihnen auf vollkommenes Unverständnis: «Die russischen Soldaten brüllten im Wechsel mit den auf der Passerelle postierten Jungburschen um die Wette, benahmen sich wie Tollhäusler und schlugen um sich wie wilde Tiere», rapportierte Bodmer verächtlich. In der emotional aufgeheizten Atmosphäre am Bahnhof sei es dann auch zu «Beschimpfungen und Aufreizungen gegenüber unsern Soldaten und der Schweiz überhaupt» gekommen.

Als am Badischen Bahnhof die deutsche Mannschaft den Zug schliesslich «unter Gebrüll der Russen» übernahm, notierte Oberst Bodmer gegen Schluss seines Rapports, «war [man] allseitig froh, diese sehr unerwünschte Gesellschaft endlich los zu sein».



«Revolutionär verhetzte Leute»

Im Zuge des Ersten Weltkriegs kamen Tausende Militärpersonen aller kriegführenden Staaten als Deserteure, entflohene Kriegsgefangene oder Internierte in die Schweiz. Kaum bekannt ist, dass darunter auch rund 3000 Russen waren. Die russischen Soldaten erreichten die Schweiz zwischen 1915 und 1920 als entflohene Kriegsgefangene aus Lagern in Deutschland und Österreich-Ungarn oder als Deserteure aus einem russischen Expeditionskorps in Frankreich. Die meisten versuchten, sich von hier aus in ihre Heimat durchzuschlagen. Einige wenige liessen sich in der Schweiz nieder und konnten hier frei leben und arbeiten.

Mit der Oktoberrevolution von 1917 in Russland änderte sich ihre Situation grundlegend. 1918, in einem Jahr, das auch in der Schweiz von extremen politischen und sozialen Spannungen geprägt war, die schliesslich im Landesstreik gipfelten, begegneten die Behörden diesen «revolutionär verhetzten Leuten» mit grossem Misstrauen. Mit dem Kriegsaustritt Sowjetrusslands im Frühjahr flohen immer mehr russische Soldaten in die neutrale Schweiz. Da man diese nicht «frei herumlaufen» lassen könne, beschloss der Bundesrat, die russischen Kriegsflüchtlinge in militärisch organisierten Detachements zu «Arbeiten im öffentlichen Interesse» zu verpflichten.

Über Monate hinweg arbeiteten deshalb Hunderte russischer Soldaten über die ganze Schweiz verteilt in Landwirtschaftsbetrieben, am Bau von Kraftwerken oder an Meliorationsprojekten. Dabei wollten die meisten Russen vor allem eins: nach Jahren des Krieges und der Gefangenschaft endlich nach Hause zurückkehren. Solche Heimkehrtransporte gestalteten sich jedoch aus politischen und logistischen Gründen sehr schwierig. Sprachliche und kulturelle Missverständnisse, die harten Arbeitsbedingungen in den Detachements, mangelnde Ausrüstung und Verpflegung führten immer wieder zu Protestaktionen und Streiks der Russen. Die Schweizer Behörden reagierten darauf meist mit Repression. Dazu kam, dass russische diplomatische Emissäre und Diasporaorganisationen unterschiedlicher politischer Couleur versuchten, ihren Einfluss auf die russischen Soldaten geltend zu machen. So gerieten sie auch in der Schweiz in das Spannungsfeld des Bürgerkriegs zwischen «Revolution» und «Konterrevolution», der in Russland tobte.

«Unerwünschte Gäste»

In seinem Buch, das in der Reihe «Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas» erscheint, zeichnet der Osteuropa-Historiker und WOZ-Autor Thomas Bürgisser das Schicksal der russischen Soldaten in der Schweiz aus deren eigener Lebenswelt nach und versucht aus ihrer Perspektive neue Erkenntnisse über die Schweiz und Russland in diesen Jahren des Umbruchs zu gewinnen.

Thomas Bürgisser: «‹Unerwünschte Gäste›. Russische Soldaten in der Schweiz 1915–1920». Pano Verlag. Zürich 2010. 238 Seiten. 58 Franken.