Sozialreformen in Britannien: Aufschwung dank Brexit?

Nr. 46 –

Einen raschen EU-Austritt verbinden viele BritInnen immer noch mit sozialpolitischen Hoffnungen, die ihre konservative Regierung aber niemals erfüllen wird.

«Schau dir diesen Ort doch mal an», antwortet Mike auf die Frage, weshalb er für den Brexit gestimmt hat – so wie über siebzig Prozent der Stimmenden von Great Yarmouth. Der 55-jährige Taxifahrer, der seinen Nachnamen nicht nennen will, wartet im Zentrum der Küstenstadt auf Kundschaft. Er hat die grossen Zeiten noch miterlebt. Noch vor wenigen Jahrzehnten war Great Yarmouth einer der beliebtesten Ferienorte im Land, auf dessen Vergnügungsmeile sich Zehntausende BesucherInnen tummelten. Heute fristet die Stadt an der Nordsee ein tristes Dasein.

Die Fischerei ging in den 1960er Jahren ein, die Kleinindustrie zwanzig Jahre später, und in der Unterhaltungsindustrie – Casinos, Spielhallen, Achterbahnen – werden die Löhne immer mieser, die Arbeitslosigkeit steigt. Der gesellschaftliche Niedergang zeigt sich in extremen Kennziffern betreffend Bildungsniveau, Gesundheit, Alkoholismus.

Anhaltende Brexit-Begeisterung

Achtzehn Monate nach dem EU-Referendum hat sich weder an der sozialen Misere noch an der Begeisterung für den EU-Austritt etwas geändert. «Wir müssten schon lange draussen sein», sagt Mike, damit es wieder aufwärtsgehe. So hoffnungsvoll wie der Taxifahrer äussern sich viele StadtbewohnerInnen, die sich auf ein Gespräch einlassen. Da scheint sich die Priorität der «Leave»-AnhängerInnen in Great Yarmouth mit derjenigen der Tory-Regierung in Westminster zu decken: Auch Theresa May will den EU-Austritt möglichst rasch umsetzen.

Fehlende wirtschaftliche Perspektiven, der Mangel an staatlichen Investitionen, die soziale Misere: All dies war mitverantwortlich für das Brexit-Votum im Juni 2016. Doch die Hoffnung, dass der von den Konservativen umgesetzte Austritt Orten wie Great Yarmouth etwas bringen könnte, wird kaum erfüllt werden: Anstatt die Missstände anzugehen, treibt die Regierung den sozialen Kahlschlag, der mit der Sparpolitik ab 2010 begann, unvermindert voran.

In den vergangenen Wochen ist offensichtlich geworden, wie akut die soziale Not ist, die durch diese Politik entsteht. Zum Beispiel durch die Obergrenze für Sozialleistungen: Seit 2016 sind fast alle Zahlungen «eingefroren», das heisst, vier Jahre lang werden sie nicht gemäss der Inflation erhöht. Laut einer neuen Schätzung der Joseph-Rowntree-Stiftung wird dies dazu führen, dass im Jahr 2020 über eine Million mehr Menschen in Armut leben als heute. Eine andere Studie kommt zum Schluss, dass Wenigverdienende nächstes Jahr rund 300 Pfund weniger zur Verfügung haben werden.

Auch die Krise im Nationalen Gesundheitsdienst NHS vertieft sich. Die Zahl der PatientInnen, die in den Notaufnahmen mehr als vier Stunden warten müssen, ist seit 2010 um über 500 Prozent angestiegen. Der Vorsitzende des NHS England, Simon Stevens, sah sich kürzlich zum ungewöhnlichen Schritt gezwungen, die Regierung um eine Geldspritze zu bitten. Er forderte sie auf, sich an das Versprechen der Brexit-Zugpferde zu halten: Diese hatten im Abstimmungskampf lauthals verkündet, dass dank des EU-Austritts 350 Millionen Pfund zur Verfügung stehen würden, die in den NHS fliessen könnten.

«Ein absolutes Desaster»

Unterdessen drückt die Regierung eine weitere Sozialreform durch: Universal Credit (UC) fasst mehrere Leistungen – etwa Wohnbeihilfen und Steuergutschriften – zu einer einzigen Zahlung zusammen. Obwohl es jahrelang katastrophale Computerprobleme gab, wurde das System nach und nach im Land umgesetzt. Great Yarmouth war im Frühling 2016 an der Reihe. «Es ist ein absolutes Desaster», sagt John Cannell, ein Gewerkschafter, der vor einem Jahr einen Betreuungsdienst für Arbeitslose mitgründete. «Wir erhalten ständig Besuch von verzweifelten Leuten, die auf ihre Zahlung warten und in ihrer Not Essensausgabestellen in Anspruch nehmen müssen.» Bereits sechs Monate nach der Einführung von UC bat die Lokalbehörde den Arbeitsminister, die Wohnbeihilfen separat zu zahlen, weil zu viele Leute in Zahlungsrückstand gerieten. Manche wurden aus ihren Wohnungen geworfen. Solche Geschichten hört man überall dort, wo UC eingeführt worden ist. Im Oktober wurde dann das volle Ausmass des Debakels bekannt: Tausende Anspruchsberechtigte im ganzen Land warteten bis zu drei Monate lang auf ihr Geld. Die Nachfrage nach Essensausgaben ist stark gestiegen. Die Labour-Partei forderte die Regierung auf, UC auf Eis zu legen, bis diese Probleme bereinigt seien – doch der Arbeitsminister lehnte ab.

Die sozialen Zustände im Land interessieren die Brexit-Clique in Westminster nicht. Beim forcierten EU-Austritt stellt sie sich allerdings dermassen ungeschickt an, dass ein «No-Deal-Szenario», also ein Ausstieg ohne Handelsabkommen zwischen der EU und Britannien, durchaus eine Möglichkeit bleibt. In dem Fall würden die ökonomischen Probleme auf der Insel erst richtig beginnen – und erneut wären es die Leute mit den niedrigsten Einkommen, die am meisten darunter zu leiden hätten. Kürzlich wurde in der «National Institute Economic Review» eine Studie veröffentlicht, nach der die Preise für Alltagsgüter wie Gemüse und Kleider aufgrund von Zöllen sprunghaft ansteigen würden: Die zwei Millionen Menschen, die am härtesten getroffen würden, wären dann pro Jahr um 400 bis 930 Pfund ärmer.