Essay: Es ist ein Requiem zu Lebzeiten, und betrauert wird: die menschliche Zivilisation.

Nr. 21 –

Was wird von uns bleiben, nachdem wir uns eigenhändig abgeschafft haben? Unsere Kultur träumt schon jetzt davon, in Bildern von Verfall und Verwilderung. Jetzt ist der chronische Ruinenkult sogar im Discounter angekommen.

  • Der Mensch ist ausgezogen, hier wohnt nur noch Treibsand: Ehemaliges Wohnhaus in Namibia. Foto: Romain Veillon
  • Die Natur holt sich zurück, was ihr gehört: Brunnen einer verlassenen Villa, Piemont, Italien. Foto: Romain Veillon
  • Wie das Skelett eines bizarren Dino­sauriers: Achterbahn aus dem Film «Homo Sapiens».
  • Relikt der Industrialisierung: Stillgelegtes Elektrizitätswerk in Deutschland. Foto: Romain Veillon
  • Happy Hour im post­humanen Zeitalter: Begrünte Bar aus dem Film «Homo Sapiens».
  • Wellness war gestern: Schwimmbad in einem ehemaligen Hauptquartier der Sowjetarmee, Wünsdorf, in der Nähe von Berlin. Foto: Tony Roddam, Alamy
  • Aufgegebener Wasserpark in Kalia, Israel. Foto: Eddie Gerald, Alamy

Ach, wie malerisch. Ein Getränkeautomat im Grünen, gut gefüllt mit bunten Dosen, aber gebraucht wird er schon länger nicht mehr, wie er da verloren in einem Feld aus kniehohem Unkraut steht. Oder seht dort draussen am Strand das Gerüst einer ausrangierten Achterbahn in der Gischt; wie das Skelett eines bizarren Sauriers ragt es in den Himmel. Aber das versunkene Zeitalter, von dem dieses Gerippe erzählt, ist unser eigenes. Willkommen in der Welt ohne Menschen!

Was wird von uns bleiben, nachdem wir uns eigenhändig abgeschafft haben? Das versucht «Homo Sapiens» zu zeigen, eine filmische Endzeitstudie aus exquisit komponierten Tableaus von Verfall und Verwilderung. Ein stillgelegter Vergnügungspark, ein überwucherter Bahnhof in der Vorstadt, eine riesige abgewrackte Sportarena irgendwo im eurasischen Niemandsland: Es sind verlassene Orte von heute, aus denen dieser Film von Nikolaus Geyrhalter eine entvölkerte Zukunft imaginiert. In einer verlassenen Kirche flattert einmal eine Taube auf, woanders hüpft eine Kröte ins Bild, wir hören ein stetes Tröpfeln, am Ende tosender Wind – aber nirgends ein Mensch, der diese Idyllen des Untergangs störte.

Es ist ein Requiem zu Lebzeiten, und betrauert wird: die menschliche Zivilisation.

Meditieren zur Endzeit

Ohne jede Regung schaut die Kamera in «Homo Sapiens» auf dieses posthumane Zeitalter, so geduldig und ungerührt, wie es kein menschliches Auge je vermöchte. Selbst der Blick ist also unmenschlich geworden – als wäre dieser ganze Film eine Videobotschaft aus einer nicht allzu fernen Zukunft, aufgenommen und arrangiert von einer künstlichen Intelligenz nach unserer Zeit. Und wir? Wir sitzen doch immer noch recht bequem im Kino oder vor unserem Bildschirm, wenn wir uns an solcher Endzeitpornografie ergötzen, und mag sie noch so kunstvoll und meditativ verbrämt daherkommen.

Was geht da eigentlich vor? Was machen solche Bilder mit uns, und was ist das für ein morbider Genuss, den wir aus ihnen ziehen? Rund zehn Jahre vor «Homo Sapiens» spekulierte schon der US-Journalist Alan Weisman in seinem Buch «Die Welt ohne uns» (2007) darüber, wie sich die Erde dereinst verwandeln dürfte, wenn der Mensch einmal nicht mehr da ist: In 20 Jahren wären die Hauptachsen von Manhattan zu Flüssen geworden, in 300 Jahren wären Hamburg und andere Städte in grossen Flussdeltas fortgewaschen. Die wissenschaftlich fundierte Zukunftsvision und der poetische Film, der die postapokalyptische Welt schon in unserer Gegenwart aufspürt: Beides sind nur zwei Beispiele für eine Kultur des Verfalls, die heute in allen erdenklichen Formen bedient und zelebriert wird.

Da ist die Subkultur der Urban Explorers, die ihre klandestinen Streifzüge durch stillgelegte Fabriken und andere verlassene Stätten dokumentieren, indem sie oft überaus spektakuläre Amateurfotos ins Netz stellen. Da sind ganze Stapel von Coffee Table Books, opulent aufgemachte Bildbände, die einem gediegenen Ruinenchic huldigen, mit mehr oder weniger romantisch anmutenden Titeln wie «Stillgelegt», «Ask The Dust» oder «Abandoned Places». Und in Film und Fernsehen gehört die entvölkerte bis verwilderte Metropole sowieso längst zum Standardrepertoire für jeden postapokalyptischen Thriller, der etwas auf sich hält, von «12 Monkeys» (1995) über «28 Days Later» (2002) und «I Am Legend» (2007) bis hin zur TV-Serie «The Walking Dead». Wobei diese gespenstischen Stadtlandschaften in der Regel dann gar nicht so leer sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Meist beherbergen sie irgendwelche rabiaten Horden, Zombies oder andere Unmenschen, gegen die die letzten Menschen beweisen können, was sie noch vom Tier unterscheidet (oder eben nicht).

Der pornografische Blick

Das sind nur die fiebrigsten Auswüchse eines chronischen Ruinenkults, für den auch schon verschiedene Namen kursieren. Bereits die britische Schriftstellerin Rose Macaulay prägte in ihrem Buch «Pleasure of Ruins» (1953) einst den Begriff «ruin lust», die russische Kulturtheoretikerin Svetlana Boym sprach später von «ruinophilia». Im Netz freilich hat sich rund um diese Lust am Verfall das frivolere Schlagwort vom «ruin porn» eingebürgert. Der Begriff geht auf James D. Griffioen zurück, einen freien Stadtfotografen und Blogger aus Detroit, der sich im August 2009 in einem Beitrag im «Vice»-Magazin abschätzig über die auswärtigen Medienleute äusserte, die seine Heimatstadt nur als Kulisse für ihre «Ruinenpornografie» ausbeuten würden. Das war auf eine Form von Fotografie gemünzt, die nur auf den geilen Schauer aus ist, der uns beim Anblick mächtiger Industrieruinen oder abgewrackter Lichtspielhäuser erfasst, in Detroit und anderswo – einer Fotografie also, die sich höchstens am Rand für die sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe interessiert, die nicht danach fragt, welche Menschen darunter zu leiden haben und warum eine Stadt so kaputt ist, wie diese Bilder es so schaurig-schön vor Augen führen.

Die Rede von «ruin porn» hat sich in den letzten Jahren rasch verselbstständigt, der Begriff wird längst auch affirmativ gebraucht, als ironisch abgefedertes Modewort für die Lust an Bildern des Verfalls. Und hat das nicht auch etwas Obszönes? Da sind die Reportagefotos, die uns aus Aleppo und anderswo erreichen, die ganze Stadt eine einzige klaffende Ruine – und zur gleichen Zeit klicken wir uns durch Bilder von Relikten aus dem saturierten Westen, mit ihren verfallenen Kinos und Fabriken. Ruinenkult ist immer auch Eskapismus: Vor den Trümmerlandschaften der realen Kriege da draussen flüchten wir uns in die pittoresken Schauerkulissen eines mehr oder weniger natürlichen Zerfalls.

Schon der Soziologe Georg Simmel stellte in seinem Essay «Die Ruine» (1907) fest, dass der besondere Reiz der Ruine verloren gehe, sobald man die «Zerstörung durch den Menschen» wahrnehme, besonders drastisch eben im Fall zerbombter Häuser. Die Bedeutung der Ruine, so betont Simmel, beruhe auf dem «Gegensatz zwischen Menschenwerk und Naturwirkung», auf einer «kosmischen Tragik» zwischen menschlichem Willen und natürlichem Verfall.

Die Drohne im Sperrgebiet

Was die Rede von «ruin porn» indes verschleiert: Solche Bilder des Verfalls bergen gleichwohl ein politisches Potenzial. Nur schon deshalb, weil jede Fotografie, die etwa eine leere Fabrik oder ein abgewracktes Kino dokumentiert, ja immer auch eine Intervention gegen die offizielle Erinnerungskultur darstellt: Was wird konserviert, was gilt als schützenswert, was nicht? Vor allem aber künden verfallene oder auch nur verlassene Bauten immer von einem Scheitern, sei das politisch (die baulichen Relikte des real existierenden Sozialismus), ökonomisch (die gespenstischen Wohnquartiere nach der Subprime-Krise) oder ökologisch (das evakuierte Gebiet in der roten Zone im Umkreis von Fukushima).

Die Unmenge an «ruin porn», die heute zirkuliert, lässt sich grob auf drei Faktoren zurückführen: Erstens den Zusammenbruch des Ostblocks, der ganze Landschaften von zerfallenden Industriegebäuden zugänglich machte, samt ausrangierten Denkmälern und anderen Relikten der Sowjetkultur. Zweitens auf die Deindustrialisierung, die auch im Westen dazu führte, dass in einstigen Industriezentren wie eben Detroit ganze Stadtteile einem langsamen Verfall überlassen wurden. Drittens schliesslich auf den medientechnologischen Sprung, der dafür sorgte, dass man auch auf gefährlichem Gelände und bei ungünstigen Lichtverhältnissen keine schwere Ausrüstung mehr braucht, um spektakuläre Fotos zu schiessen, die sich dann hochauflösend im Netz verbreiten lassen; und wenn das Gelände verseucht oder sonst wie gefährlich ist, müssen wir heute nicht mal mehr selber fotografieren – wir schicken einfach eine Drohne als ferngesteuerte Kamera ins Sperrgebiet.

Im Netz besonders beliebt: die Spomeniks aus der Zeit von Tito, jugoslawische Weltkriegsdenkmäler, denen der niederländische Fotograf Jan Kempenaers seinen Bildband «Spomenik» (2010) gewidmet hat. Es sind Denkmäler, die wie futuristische Totems irgendeiner untergegangenen Stammeskultur wirken. Gebaut, um an den Krieg zu erinnern, erscheinen diese sozialistischen Relikte heute als Vorboten einer möglichen Zukunft, die nie eingetreten ist.

Imperiale Kulissen für die Zukunft

Dabei ist dieser ganze Ruinenkult keineswegs neu. Er lässt sich datieren als Begleiterscheinung der Aufklärung. Zeitgleich mit dem Aufkommen der Schauerliteratur, die alte Gemäuer als Schauplatz des Unheimlichen entdeckt, erwacht auch der Ruinenkult – die Lust am Morbiden als Kehrseite der Fortschrittsversprechen der Moderne, die mit ihrem Rationalismus überall Licht ins Dunkel bringen will. Seither zieht sich die Faszination für Ruinen durch die westliche Kultur, wobei sie zu verschiedenen Zeiten ideologisch ganz unterschiedlich grundiert ist. In der Landschaftsarchitektur des 18. Jahrhunderts, die gegen die absolutistische Rasterplanung der Barockgärten gerichtet war, kam es in Mode, auch eigens errichtete Ruinen in der Landschaft zu platzieren – als simulierte Gedenkstätten, die den Menschen an seine Vergänglichkeit erinnern sollten. Falsche Mauerreste als Memento mori, in den Garten gebaut.

Doch der Ruinenkult kann auch mit gegenteiliger Absicht betrieben werden: nämlich um den Ewigkeitswert einer baulichen Kultur zu statuieren. Im Jahr 1830 malt der britische Künstler Joseph Gandy die Bank of England in London als riesigen Ruinenkomplex aus der Vogelschau – dies zu einem Zeitpunkt, als die Bank mit ihren diversen Erweiterungsbauten ganz neu war. Zeugte das Bild einfach von einer besonders morbiden Fantasie des Künstlers, oder war Gandy ein Anarchist, der davon träumte, die Bank in Schutt und Asche zu legen? Weder noch, das Bild war ein Auftragswerk, entstanden auf Bestellung von Sir John Soane, dem Chefarchitekten der Bank of England, der sein Werk als imaginäre Ausgrabungsstätte für eine staunende Nachwelt verewigt sehen wollte. In ihrem erträumten Verfallszustand wird die Architektur vorzeitig als imposante antike Kulisse für eine ferne Zukunft geadelt.

So ähnlich dachte wohl auch der Naziarchitekt Albert Speer, als er im Rückblick auf seine Rolle als Reichsbaumeister unter Hitler seine krude «Theorie des Ruinenwerts» entwickelte, als nachträgliche Setzung in seinem Buch «Erinnerungen» (1969). «Die Verwendung besonderer Materialien sowie die Berücksichtigung besonderer statischer Überlegungen», so Speer in seinen Memoiren, «sollte Bauten ermöglichen, die im Verfallszustand, nach Hunderten oder (so rechneten wir) Tausenden von Jahren, etwa den römischen Vorbildern gleichen würden.» Der Wahn des «Tausendjährigen Reichs» zeigt sich also auch darin, dass selbst die Überbleibsel in der Zeit nach dessen Untergang in imperialer Grösse erträumt werden, also, wie Speer schreibt, «überwuchert von Efeu, mit eingestürzten Pfeilern, das Mauerwerk hie und da zusammengefallen, aber in den grossen Umrissen noch deutlich erkennbar».

Ruine aus der Retorte

In einer historischen Pointe, wie man sie sich schöner nicht ausdenken könnte, ist ein handfester kleinbürgerlicher Abguss von Speers Idee heute im Onlineshop eines deutschen Discounters angekommen: «Gestalten Sie Ihren eigenen antiken Rückzugsort und schaffen Sie ein Flair aus der Antike.» Die Ruine, für die mit diesen Worten geworben wird, wiegt 4415 Kilogramm, und sie wertet jeden kommunen Gartensitzplatz zur quasihistorischen Kulisse auf. Zu haben ist sie bei Lidl, für 1639 Euro plus Versandkosten. Die «rustikale Optik» des Gemäuers, so weiss die Produktbeschreibung, «lässt sich nahezu in jede Garten- und Landschaftsgestaltung integrieren und verbindet sich harmonisch mit dem Umfeld».

Was hier als «antiker Rückzugsort» für den Privatgebrauch verkauft wird, ist natürlich einfach eine massive Kitschmauer, gefertigt aus profanem Beton. Und auch sonst sieht diese Ruine aus der Retorte einfach aus, als ob dem Maurer dummerweise mittendrin die Steine ausgegangen seien – da gibts nicht mal verblichene falsche Fresken, Verwitterungseffekte oder andere künstliche Verfallsspuren, die man zwecks antiken Flairs eigens angebracht hätte. Aber wer so eine fabrikneue Ruine für den eigenen Garten kauft, wird sich hernach ja kaum darüber beklagen, dass die Vorspiegelung echter Geschichtsträchtigkeit im Preis offenbar nicht inbegriffen ist.

Die Ruine aus dem Billigmarkt als Freiluftaccessoire fürs Einfamilienhaus? Damit ist unsere kulturelle Obsession für Objekte des Verfalls vollends warenförmig geworden. Und die grassierende Ruinenpornografie ist bereits zur Biedermeierkulisse geronnen.

Utopie aus dem Schutt

Was aber erzählt die jüngste Renaissance des Ruinenchics, die wir momentan erleben, über unsere Zeit? Oder anders gefragt: Was für ein Imperium wäre das, dessen Untergang wir in solchen Bildern imaginieren? Der Geograf und Urban Explorer Bradley L. Garrett glaubt, dass diese Bilder von Verfall und Verwilderung als negative Wunschvorstellungen funktionieren: die Industrieruine als alternativer Sehnsuchtsort für eine Zeit, in der der Kapitalismus alternativlos geworden ist. Schliesslich, so Garrett, sei die Utopie, die sich dereinst aus dem Schutt eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs erhebe, möglicherweise auch gar nicht so paradiesisch, wie wir sie gern hätten.

In die entgegengesetzte Richtung zielt die US-Kunsthistorikerin Dora Apel, wenn sie in ihrem Buch «Beautiful Terrible Ruins» (2015) unsere Obsession für Ruinen als Symptom von Niedergangsängsten liest. Sie sieht darin eine moderne Form des romantischen Erhabenen: Das Gewaltige, das uns Furcht einflösst, weil es unsere Vorstellungskraft übersteigt, zähmen wir in der Betrachtung und verwandeln es so in etwas, das uns Lust bereitet. Indem wir uns in diesen Ruinenbildern eine Welt ohne Menschen erträumen, temperieren wir unsere Verfallsängste im Spätkapitalismus. Apel vergleicht das mit der Funktion des Atompilzes, der gerade deshalb zum ikonischen Bild des nuklearen Zeitalters werden konnte, weil das Ausmass der Vernichtung und alle menschlichen Opfer darin komplett ausgeblendet bleiben, zugunsten einer bereinigten Vision von «technologischer Erhabenheit».

Unser pornografischer Ruinenkult ist also gewissermassen der Atompilz der neoliberalen Ära: die populäre Chiffre für unsere Angstlust in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Blockpolitik, aber vor dem Klimakollaps. Und nicht zuletzt mildern wir mit diesen Bildern unser schlechtes Gewissen im Anthropozän, dem Zeitalter, in dem der Mensch zum geologischen Treiber geworden ist. Das ist die posthumane Zuversicht, die wir uns angesichts dieser Bilder einer entvölkerten Welt einreden: Die Natur wird sich schon zurückholen, was ihr gehört.