NSU-Tribunal: Mit dem besseren Wissen der Betroffenen
Ein mehrtägiges Tribunal am Kölner Schauspiel brachte Licht ins staatliche und mediale Treiben um die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds. Die Losung: «NSU-Komplex auflösen»!
Ein Tribunal im eigentlichen Sinn war das nicht, was vergangene Woche am Schauspiel Köln über die Bühne ging. Anders als bei den diversen Russell-Tribunalen in den sechziger und siebziger Jahren gab es weder eine Beweisaufnahme noch eine prominent besetzte Jury, die am Ende ein Urteil gesprochen hätte. Stattdessen war in Köln-Mülheim, nur wenige Meter entfernt von der Keupstrasse, wo der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) 2004 ein schweres Nagelbombenattentat verübt hatte, ein vielstimmiges «Wir organisieren uns selbst» zu erleben. «Wir wollten das klassische Format mit seinen autoritären Sprechformen vermeiden», erklärt Ayse Gülec vom Vorbereitungskreis NSU-Tribunal. «Es ging uns um andere Möglichkeiten des Zuhörens. Und wir wollten das Theater in einen Ort verwandeln, an dem antirassistische Gruppen zusammenkommen können.»
Armada der Ignoranz
Das NSU-Tribunal glich denn auch eher einem Kongress. Zum aufwühlenden Auftakt sprachen Opfer des Kölner Anschlags 2004, danach wurde in zwanzig Workshops und zehn von den OrganisatorInnen vorbereiteten Hauptveranstaltungen das «Wissen der Vielen» zusammengetragen. Der Theaterrahmen gewährleistete dabei, dass konventionelle Vorträge eher die Ausnahme blieben.
Die OrganisatorInnen setzten zudem ganz auf das Wissen der Betroffenen. In diesem Fall aus besonders gutem Grund: Ein Jahrzehnt lang hatte eine ganze Armada von Kriminalisten, Journalistinnen und BerufspolitikerInnen die rassistische Mordserie des NSU nicht als solche erkennen wollen. Während Polizei, Justiz und Medien gegen die Opfer ermittelten und immer wieder von «Ausländerkriminalität» redeten, wiesen MigrantInnen schon früh darauf hin, dass Nazis hinter den Anschlägen stecken mussten. Dass auf dem NSU-Tribunal keine Mitglieder von Untersuchungsausschüssen oder spezialisierte JournalistInnen befragt wurden, sondern dass man das «migrantische Wissen» in den Mittelpunkt stellte, erwies sich als richtige Entscheidung.
Das Format brachte es mit sich, dass auch die Hauptveranstaltungen ein uneinheitliches Bild boten. Das Tribunal hatte sehr starke Momente, etwa mit einem Beitrag zur Geschichte der Arbeitsmigration («Wir wollen keinen Dank, wir wollen Respekt, verdammt noch mal»). Gerade jenen Linken, die nach Lektüre von Didier Eribons «Rückkehr nach Reims» etwas hilflos die Frage stellen, wie Antirassismus, Feminismus und Klassenperspektive zusammengehen könnten, hätte der Besuch dieser Veranstaltung möglicherweise weiterhelfen können. In knapp zwei Stunden und anhand von Textfragmenten, Bildern und Videoeinspielungen wurde Einwanderung hier als Geschichte der Arbeit, der Ausbeutung und des Widerstands erzählt. In den Integrations- und Diversitätsdebatten der Gegenwart wird nämlich geflissentlich ausgeblendet, dass Migration immer auch Klassengeschichte ist und Rassismus stets auch eine Attacke auf die Handlungsfähigkeit einer pluralen Unterklasse darstellt. Bei der Veranstaltung wurde deutlich, dass es bei den Bemühungen um rechtliche Gleichstellung und symbolische Anerkennung nicht um Fragen des korrekten Sprechens, sondern um soziale und materielle Teilhabe geht.
Der Terror der Ermittler
Gleichermassen berührend und analytisch stark war das Theaterstück «Warum musste Theo sterben?», inszeniert von einer Gruppe um den Journalisten Miltiadis Oulios und den griechischen Regisseur Antonis Chryssoulakis. Gestützt auf Aussagen der Angehörigen und Akten der Untersuchungsausschüsse, rekonstruiert das Stück den Mord an Theodoros Boulgarides 2005 in München und zeigt, wie die Ermittlungen der bayrischen Polizei die Angehörigen ein zweites Mal und über Jahre hinweg terrorisierten. Das funktioniert als Dramatisierung von Recherchetexten wie als exemplarische Analyse: Auf subtile Weise werden Erwartungen des Publikums unterlaufen, und die SchauspielerInnen verstehen es, jenes Pathos zu brechen, das durch die inhaltlichen Statements produziert wird.
Weniger ergiebig waren dagegen die Gesprächsformate über «Die Geschichte der Kämpfe», wo antirassistische Organisationen sich und ihren Widerstand am Freitagabend vorstellten. Hier wurde einem Publikum, das sich überwiegend aus AktivistInnen zusammensetzte, erläutert, wie Selbstorganisierung funktioniert und dass sie wichtig ist. Das Anliegen mochte berechtigt sein, doch die Roundtables wirkten überfrachtet, und die Form des Bühnengesprächs hatte etwas Bleiernes.
Die Aufklärung wurde geschreddert
Umso kraftvoller und überzeugender dann der Abschlussabend mit der Verlesung der Anklageschrift. Darin werden neunzig Personen als Verantwortliche des NSU-Komplexes benannt und ihre Rolle in dem Skandal skizziert – und zwar nicht nur Nazis oder jene zahllosen deutschen Geheimdienstler, die die extreme Rechte in Deutschland protegiert und nach der Enthüllung des NSU im November 2011 durch das Schreddern von Akten eine Aufklärung des Falls verhindert haben. Zu Recht lenken die OrganisatorInnen des Tribunals den Blick auch auf Verantwortliche in Politik und Medien. Genannt werden sowohl die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die als zuständige Ministerin Anfang der neunziger Jahre Gelder an Nazijugendklubs verteilte und somit zur Entwicklung faschistischer Strukturen beitrug, als auch diverse SPD-Innenminister, die nach Nazianschlägen aus politischem Interesse (der Sorge um die Exportnation Deutschland) rassistische Hintergründe immer wieder als Motiv ausschlossen und ernsthafte Ermittlungen damit unterbanden. Aber auch JournalistInnen sogenannter Qualitätsmedien wie ARD, «Spiegel» und «Frankfurter Allgemeine Zeitung» sowie Extremismusforscher werden in der Anklageschrift als Mitverantwortliche benannt, die rassistische Stereotype bekräftigten und die Nazierzählungen damit stützten.
Normalerweise konkurrieren in Deutschland zum NSU heute drei unterschiedliche Erzählungen: Der Staat und die grossen bürgerlichen Medien stellen den NSU als isolierte Kleingruppe dar; ein breites Spektrum von neurechten, aber auch linken VerschwörungsexpertInnen verweist fast ausschliesslich auf die Rolle der Geheimdienste; und ein grosser Teil der antifaschistischen Linken schliesslich geisselt sich selbst, indem man auf die Gesellschaft und die eigene Mitverantwortung verweist. Das NSU-Tribunal dagegen hat eine vierte Lesart aufgezeigt: Der Staat und seine Geheimdienste haben den NSU-Terror auf verschiedene Weise möglich gemacht und protegiert. Das Problem dahinter ist ein organisierter Rassismus, der von Nazigruppen über Amtsstuben bis in die Köpfe von Journalisten und Akademikerinnen reicht.
Der V-Mann im Bündnerland
Am Ende des Tribunals hätte man sich nur noch ein wenig mehr politische Analyse gewünscht. So bräuchte es endlich Erklärungshypothesen dafür, warum die deutschen Geheimdienste die Nazistrukturen so aktiv unterstützt haben und nicht eingeschritten sind. Immerhin waren 45 V-Leute diverser Verfassungsschutzämter im direkten Umfeld des NSU aktiv. Der V-Mann Ralf Marschner, der als Leiter eines Bautrupps die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Anfang der 2000er Jahre durch die Republik schickte und damit logistisch absicherte, wurde sogar mit einer neuen Identität ausgestattet. 2008 schickte ihn der Verfassungsschutz in die Schweiz, wo er heute unbehelligt in Chur lebt.
Haben die Geheimdienste damals nicht begriffen, dass sie die Logistik für den NSU-Terror bereitstellten, und versuchen das seither zu vertuschen? Oder gibt es rechtsextreme Netzwerke im Staat, die wie der NSU eine Migrationsgesellschaft verhindern wollen? Es wäre Zeit, solche Fragen offensiv zu stellen. Die grosse politische Leistung des NSU-Tribunals besteht darin, dass es hierfür die Grundlagen geschaffen hat – vielstimmig und aus der Perspektive der Betroffenen.
Die Anklageschrift des NSU-Tribunals gibt es als Download: www.nsu-tribunal.de.