Flüchtlingspolitik: Was heisst hier überhaupt «sicher»?
Nach einem schweren Anschlag in Kabul setzt die deutsche Regierung Ausschaffungen nach Afghanistan vorübergehend aus. Für die Schweiz ist das Attentat allerdings kein Grund, die Wegweisungspraxis zu überdenken.
Wer für den Zynismus europäischer Asylpolitik noch einen Beweis brauchte, bekam ihn vergangene Woche: Am Mittwoch führte die Polizei einen zwanzigjährigen Afghanen aus dem laufenden Unterricht einer Nürnberger Berufsschule ab, um ihn ins Flugzeug Richtung Kabul zu setzen. Als MitschülerInnen sich gegen die Ausschaffung wehrten, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Charterflüge gestoppt
Die für den gleichen Tag geplante Wegweisung des Lehrlings fand dann doch nicht statt. Denn ein paar Stunden zuvor hatte ein Sprengsatz im (bestens bewachten) Botschaftsquartier von Kabul unweit der deutschen Vertretung rund 150 Menschen in den Tod gerissen. Die Behörden strichen daraufhin den Ausschaffungsflug – mit der Begründung, das Botschaftspersonal habe unter den gegebenen Umständen keine Zeit, sich um die Ausgeschafften zu kümmern. Am nächsten Tag wurden die Rückweisungen nach Afghanistan vorübergehend ausgesetzt, vermutlich auf Druck des SPD-geführten Aussenministeriums. Die Behörde wurde beauftragt, ihre Einschätzung der Sicherheitslage zu aktualisieren. Im Juli soll der Bericht vorliegen.
Im Oktober 2016 hatten Deutschland und die EU je ein Abkommen mit Afghanistan unterzeichnet: finanzielle Hilfe gegen die Rücknahme Geflüchteter, andernfalls würden Entwicklungsgelder gestrichen. Zuvor war ein Bericht publiziert worden, in dem von «vergleichsweise stabilen» Gebieten in Afghanistan die Rede war, obwohl sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren immer weiter verschlechtert hat. Seither startet von deutschen Flughäfen einmal im Monat ein Charterflug nach Kabul, allein in diesem Jahr wurden etwa hundert Personen in das Kriegsgebiet zurückgeschickt. Auch die Anerkennungspraxis ist restriktiver geworden: Waren 2015 noch knapp 80 Prozent der Asylbescheide positiv ausgefallen, liegt die Quote inzwischen bei unter 50 Prozent. Zum Vergleich: In der Schweiz werden 70 Prozent der Geflüchteten aus Afghanistan vorläufig aufgenommen, die Anerkennungsquote liegt bei 13 Prozent.
Die von den deutschen Behörden als «stabil» erachteten Gebiete umfassen weite Teile des Landes – obwohl in 31 von 34 Provinzen gekämpft wird, über eine halbe Million Menschen allein im vergangenen Jahr zu Binnenvertriebenen wurden und gemäss Uno-Angaben 11 500 ZivilistInnen zu Opfern von Kämpfen und Anschlägen. Das Flüchtlingshilfswerk der Uno weigert sich entsprechend, zwischen «sicheren» und «unsicheren» Regionen zu unterscheiden. Und in den Medien fanden sich regelmässig Berichte über Geflüchtete, die – viele von ihnen bereits in der Ausbildung und mit guten Deutschkenntnissen – ins Flugzeug gesetzt werden. Ohne Netzwerke oder ernst zu nehmende Perspektiven entliess man sie in Kabul in eine ungewisse Zukunft.
Eine perfide Strategie
Flüchtlingsorganisationen und die Opposition fordern schon seit dem Abschluss des Rücknahmeabkommens einen kompletten Wegweisungsstopp. Auch nach dem letzten Anschlag hagelte es Kritik, Grünen Ko-Chef Cem Özdemir etwa sprach von einem «kranken System». Auch wenn es so aussehen mag, als würde die Regierung ihre Praxis nun überdenken: Die Massnahme dürfte weder von humanitären Motiven geleitet noch von langer Dauer sein. Denn die rigide Politik ist Teil einer perfiden Strategie. Aus Angst vor steigenden Fluchtbewegungen und dem Erstarken von Parteien am rechten Rand hat die deutsche Regierung ihre Asylpolitik seit Angela Merkels «Wir schaffen das» im Spätsommer 2015 kontinuierlich verschärft.
Die öffentlichkeitswirksamen Sammelabschiebungen waren nicht zuletzt als Abschreckung für all jene gedacht, die sich in Afghanistan noch auf den Weg machen könnten. Wenige Monate vor der Bundestagswahl dürfte sich die CDU-Regierung grösste Mühe geben, neue Flüchtlingstrecks zu verhindern. Wenn sich der öffentliche Protest gegen die Rückführungen also etwas gelegt hat, wird wohl schon bald wieder ein Charterflug Richtung Kabul abheben.
In der Schweiz erachten die Behörden Wegweisungen nach Afghanistan übrigens weiterhin als «grundsätzlich zulässig und auch möglich», wie das Staatssekretariat für Migration auf Anfrage schreibt. Für eine Praxisänderung bestehe aus SEM-Sicht auch nach dem schweren Anschlag von vergangener Woche keine Notwendigkeit. Von Januar bis April 2017 hat die Schweiz fünf Personen nach Afghanistan ausgeschafft.