­Invalidenversicherung: Was tun, um eidg. dipl. depressiv zu sein?

Nr. 25 –

Für Menschen, die unter nicht eindeutig erklärbaren Schmerzen leiden, wird es schwieriger, eine IV-Rente zu erhalten. Auch, weil das Bundesgericht einen Entscheid aus dem Jahr 2015 missachtet.

Wie «mittelschwer» ist deine Depression? Glasmalerei an einer Zürcher Beiz. Foto: Ursula Häne

Der Druck auf die Invalidenversicherung ist enorm. Vor allem bei Menschen mit psychischen Leiden will der Bund sparen. Bundesrat Alain Berset spricht in seiner Vorlage zur nächsten IV-Revision aber nicht von Einsparungen. Sondern davon, Menschen mit psychischen Leiden besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren (siehe WOZ Nr. 3/2017 ).

Das klingt zunächst nachvollziehbar: Über die Hälfte der IV-BezügerInnen erhalten sie aus psychischen Gründen, Tendenz steigend. Doch in der Praxis ist es komplizierter. Untersuchungen aus den letzten Jahren zeigen, dass immer mehr Menschen mit psychischen Leiden, die aufgrund der Verschärfungen der letzten drei IV-Revisionen nur noch eine Teil- oder gar keine IV-Rente mehr erhalten, in der Sozialhilfe landen. Belastet werden damit in erster Linie Gemeinden, die schon heute über steigende Sozialhilfekosten klagen – und den Mindestbetrag für SozialhilfebezügerInnen so weit wie nur möglich zu senken versuchen.

Je depressiver, desto besser?

In diesem Teufelskreis spielt auch das Bundesgericht eine entscheidende Rolle. Eigentlich überraschend, zumal ebendiese Instanz vor zwei Jahren ihre bisherige Rechtsprechung aufgrund eines Gutachtens korrigierte – zugunsten der Betroffenen. Insbesondere ging es dabei um PatientInnen, die unter chronischen Schmerzen leiden, die sich medizinisch nicht eindeutig erklären lassen. Bis zu jenem Zeitpunkt galt die Regel: Wer unter Schmerzen leidet, die medizinisch nicht eindeutig erklärbar sind, der oder dem ist zuzumuten, diese «Schmerzstörung» mit einer angemessenen «Willensanstrengung» zu überwinden. Unter dem zynisch anmutenden Begriff «Überwindbarkeitsvermutung» wurden somit viele SchmerzpatientInnen – etwa solche mit einem Schleudertrauma – zu Sozialfällen.

Die bundesgerichtliche Korrektur änderte zwar nichts daran, dass die Beweislast weiterhin bei der betroffenen Person liegt. Davon ausgehend aber, dass nicht erklärbare Leiden kaum beweisbar sind, soll gemäss dem Bundesgerichtsentscheid vom 3. Juni 2015 neu das «tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen» im Vordergrund der Beurteilung stehen.

Zwei Jahre später zeigt nun aber eine unlängst vom «Tages-Anzeiger» zitierte Analyse des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich: Entgegen diesem Grundsatzentscheid hat sich die Situation der Betroffenen nicht verbessert. Von insgesamt 220 Fällen, die seither beurteilt wurden, hat das Gericht in nur einem Fall eine IV-Rente gutgeheissen.

Noch pauschaler abgewiesen werden die Ansprüche von Menschen, die unter «mittelschweren» Depressionen leiden – einem Krankheitsbild, das ähnlich wie ein Schleudertrauma nicht einfach zu belegen ist. Das Bundesgericht argumentiert neuerdings damit, dass selbst eine «mittelschwere Depression» erst dann «invalidisierend» sei, wenn therapeutisch nichts mehr zu machen sei.

Für jemanden, der unter einer Depression leidet, beginnt damit ein mühseliger Gang durch die medizinischen, therapeutischen und gerichtlichen Instanzen. Die Hauptaufgabe besteht nun also für diese Person darin, beweisen zu können, schwer depressiv zu sein. Wie unter einem solchen Stern eine Depression überwunden werden soll, ist schleierhaft. Im Gegenteil: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Depression im Lauf eines solchen «Beweisverfahrens» gar noch verschlimmert, ist gross. Zynisch ausgedrückt: Um quasi eidgenössisch diplomiert depressiv zu sein, braucht es zahlreiche Therapien, die möglichst so erfolglos verlaufen, dass sich eine mittelschwere in eine «chronische Depression» verwandelt.

Die Folgen der Beschwerdeflut

Nun ist die Idee, Menschen mit einer Depression die Tür ins Erwerbsleben offen zu halten, gewiss keine schlechte. Was aber, wenn jemand durch sein wie auch immer entstandenes Leiden derart eingeschränkt ist, dass sie oder er nur unter zusätzlichen Gesundheitsschädigungen den Anforderungen einer Erwerbsarbeit genügen kann? Warum soll diese Person nicht wenigstens eine Teilrente erhalten – oder eine befristete? Und das notabene in einer Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, in der die Arbeitslosigkeit eher steigen als sinken wird? Was sind die wahren Gründe für diese absurde Gerichtspraxis?

Den vermeintlich bahnbrechenden Grundsatzentscheid des Bundesgerichts, wonach die Fälle psychischer Beeinträchtigungen fortan ergebnisoffen beurteilt werden sollen, hatte David Husmann erwirkt, ein Zürcher Anwalt, der sich seit Jahren für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung einsetzt. Den Grund dafür, dass der Entscheid kaum umgesetzt wird, sieht Husmann in der Beschwerdeflut. Dass diese so horrend ist, sei systembedingt: «Solange Depressive von den Sozialversicherern gezwungen werden, sich bei versicherungsnahen Gutachterinstituten beurteilen zu lassen, können viele von ihnen das Gutachten und den darauf beruhenden Entscheid des Sozialversicherers verständlicherweise nicht akzeptieren und ziehen ihn vor Gericht.» Da die medizinischen Abklärungsstellen weitgehend von den Aufträgen der sparorientierten IV abhängig seien, bestehe kein Anreiz dafür, eine ergebnisoffene Beurteilung vorzunehmen: «Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat zwar schon vor Jahren eine Aufsichtsbehörde in Aussicht gestellt, doch blieb es bei der Absichtserklärung», sagt Husmann.

Er plädiert daher für die Schaffung von paritätischen GutachterInnenstellen, vergleichbar mit Gremien, wie sie etwa im Miet- oder im Arbeitsrecht vorgesehen sind: «Bei schwierigen Fällen könnten so neben Ärzten, die die Sozialversicherer stellen, auch solche beigezogen werden, die von Behinderten- und ähnlichen Organisationen vorgeschlagen werden.» Die Anzahl der Beschwerden, so glaubt Husmann, würde so um mindestens die Hälfte abnehmen.

Heute werden vom Bundesgericht pro Jahr insgesamt gegen 8000 Beschwerden behandelt – viermal mehr als noch in den siebziger Jahren. Bei dieser Zahl muss laut Rechtsprofessor Marc Thommen ein einziger Richter ein Urteil pro Tag selber schreiben und bei zwei weiteren mitentscheiden. Sich unter diesen Umständen angemessen in die Materie zu vertiefen, ist laut Thommen praktisch unmöglich. Die Folge sei, dass die Hauptarbeit – bis zu den Urteilstexten – von GerichtsschreiberInnen geleistet werde. Entscheidend für die Urteile sind also nicht die demokratisch gewählten RichterInnen, sondern die GerichtsschreiberInnen.

Für diese wiederum besteht die Sisyphusarbeit darin, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Beschwerden zu bearbeiten. Da eine Gutheissung weit aufwendiger ist, liegt es nahe, im Zweifelsfall lieber einer womöglich schwer depressiven Person die IV abzusprechen, als einem womöglich scheindepressiven Menschen eine solche zu gewähren. Im wahrsten Sinn des Wortes: eine deprimierende Aufgabe.

Husmann aber denkt nicht ans Aufgeben: «Ich werde bei Gelegenheit mit einem Fall von einer mittelschweren Depression nach Strassburg gehen. Es kann nicht sein, dass diese Krankheit viel strenger beurteilt wird als somatische Erkrankungen. Das ist krass rechtsungleich.»