Angst und Schrecken in Schaffhausen: Plötzlich Terrorschüler
Ein Siebzehnjähriger verursachte an einer Schaffhauser Schule zunehmend Probleme. Eine sinnvolle Lösung war bereits aufgegleist, als Akteure aus Politik und Medien den Fall für ihre Zwecke auszuschlachten begannen – mit fatalen Folgen für den Schüler.
Der siebzehnjährige B. (Name der Redaktion bekannt) sorgte in den letzten Wochen schweizweit für Schlagzeilen. Der «Blick» bezeichnete ihn kürzlich als «gefährlichsten Schüler Schaffhausens». Die «Weltwoche» schrieb, B. drifte «in eine von Gewaltfantasien bevölkerte Parallelwelt» ab und habe «eine Bluttat angekündigt». Und gemäss den «Schaffhauser Nachrichten», die die Geschichte medial ins Rollen gebracht hatten, versetzte der Schüler «das Bachschulhaus monatelang in Angst und Schrecken».
Längst hält die Story in Schaffhausen nicht nur den Schulbetrieb, sondern auch die Polizei, die Jugendstaatsanwaltschaft, das Stadtparlament, ja eigentlich die ganze Stadtbevölkerung auf Trab.
«Unnötigerweise», findet Ernst «Yak» Sulzberger. Der 63-jährige GLP-Politiker verfügt über den tiefsten Einblick in den Fall: Er ist im siebenköpfigen Schaffhauser Stadtschulrat für das Bachschulhaus zuständig. Bezeichnenderweise ignorierten ihn die Medien bisher weitgehend – mit Ausnahme des «Magazins», das den Fall letzte Woche erstmals ausgewogen beleuchtete.
Time-out-Klasse war eingefädelt
Sein ganzes Berufsleben lang beschäftigte sich Sulzberger mit Problemfällen, bis zu seiner Pensionierung Ende 2016 war er als Vizepräsident des Kantonsgerichts tätig. «Ich wusste, dass der Job als Stadtschulrat nicht einfach wird. Aber dieser aktuelle Fall setzt mir zu wie kaum einer zuvor», sagt er.
In seiner Version hört sich der Fall zusammengefasst so an: B. war bis zu seinem letzten obligatorischen Schuljahr ein unauffälliger Schüler. Das änderte sich, nachdem eine Lehrerin den Klassenlehrer von B. abgelöst hatte. Besonders nach den Herbstferien sei B. öfter negativ aufgefallen und habe Konflikte mit LehrerInnen gehabt, wie im Sitzungsprotokoll vom 30. November 2016 des Stadtschulrats festgehalten wird. An dieser Sitzung war B. ein Thema, weil der gläubige Muslim in den Pausen gebetet hatte, wozu er jeweils ein unbesetztes Zimmer aufsuchen durfte. Das verbot ihm der Stadtschulrat nun nach Rücksprache mit der Klassenlehrerin – die Schule sei ein religiös neutraler Ort.
Sulzberger war zu dem Zeitpunkt noch nicht mit dem Fall betraut, er trat sein Amt als neu gewählter Stadtschulrat erst zu Jahresbeginn an. Nachdem er Mitte Januar das Bachschulhaus erstmals besucht hatte, verschlechterte sich die Situation. B. bespuckte und schlug Mitschülerinnen, verprügelte einen Mitschüler, zeigte einem anderen Schüler ein Rüstmesser und bedrohte LehrerInnen. «Ohne Zweifel schwerwiegende Vorfälle», sagt Sulzberger, «aber keineswegs völlig aussergewöhnlich.»
Die Vorfälle zogen jedenfalls umgehend Konsequenzen nach sich: Sulzberger organisierte ein Elterngespräch, an dem auch zwei Polizisten anwesend waren – die Polizei hatte das so angeboten, nachdem sie über den Fall informiert worden war. Danach gleiste der Stadtschulrat bis Ende Januar die Suspendierung von der Schule sowie die Versetzung in eine sogenannte Time-out-Klasse auf. Zugleich leitete die Jugendanwaltschaft aufgrund mehrerer Anzeigen eine Strafuntersuchung ein.
Zudem liess Sulzberger über die zuständige Stelle bei der Polizei abklären, ob bei B. eine Radikalisierung stattgefunden habe. Die Klassenlehrerin stellte während des Unterrichts fest, dass B. die Website des Islamischen Zentralrats abgerufen hatte. Das Ergebnis der Radikalisierungsabklärung war negativ.
Mehrere LehrerInnen vom Bachschulhaus haben diese Darstellungen gegenüber der WOZ bestätigt – mit einer Ausnahme. Und ausgerechnet diese Person ist Vertreter der LehrerInnen des Bachschulhauses im Stadtschulrat. Entsprechend flossen die Darstellungen dieses Lehrers («psychopathischer Eindruck», «konsumiert IS-Propaganda», «prahlt mit Messer») in die offiziellen Protokolle der Stadtschulratssitzungen ein – und von dort in die Berichterstattung von «Schaffhauser Nachrichten» und «Weltwoche».
Die WOZ hätte von diesem Lehrer gerne erfahren, weshalb seine Darstellung wesentlich von jener der KollegInnen abweicht und ob er für die Aussagen Belege hat. Auf entsprechende Anfragen hat er nicht reagiert.
Jedenfalls schien es Ende Januar, als würde B. wieder auf die richtige Bahn kommen. Stattdessen wurde sein Fall zum Politikum und Medienskandal.
Am 14. Februar – mehr als zwei Wochen nachdem B. vom Bachschulhaus suspendiert worden war – verschickte die städtische SVP kurz vor Mitternacht eine Interpellation an die Schaffhauser Medien. Titel: «Unhaltbare Zustände an den Schaffhauser Schulen!» Darin hiess es, Lehrer würden mit Waffen bedroht, Mädchen werde aus nächster Nähe ins nicht verhüllte Gesicht gespuckt. Es ging um den Fall B. Doch statt von einem Einzelfall war von «schwerwiegenden Sicherheitsproblemen an den Schaffhauser Schulen» die Rede.
Unterzeichnet hatte die Interpellation Edgar Zehnder, Baumeister von Beruf und bis dato eher unauffälliger Stadtparlamentarier. In sechzehn Jahren hatte er gerade einmal zwölf Vorstösse eingereicht – zu Mobilfunkantennen, Wahlterminen oder einem Verkehrskreisel. Der schrille Tonfall der Interpellation passte eigentlich nicht zum 53-Jährigen.
Die WOZ wollte von Zehnder wissen, welche Rolle die Tatsache spielte, dass seine Tochter am Bachschulhaus dieselbe Klasse wie B. besuchte. Eine Antwort blieb aus.
Der Ausrufezeichen-Mann
Die Fäden scheinen bei Mariano Fioretti zusammenzulaufen. Der 48-jährige SVP-Politiker ist gleichzeitig Vizepräsident des Schulrats, städtischer Parteisekretär, Kantonsrat und Stadtparlamentarier. Seine politischen Vorstösse enden üblicherweise mit einem Ausrufezeichen: «Behördenpropaganda des (SP-)Stadtpräsidenten!» oder «100 Asylsuchende mitten im Wohnquartier!»
Fioretti verschickte – in seiner Funktion als SVP-Parteisekretär – die erwähnte Interpellation an die Medien. Seine KollegInnen aus dem Stadtschulrat hingegen erfuhren erst am folgenden Nachmittag vom Vorstoss Zehnders, als sie auf Fragen der JournalistInnen keine Antwort geben konnten.
Als Vizepräsident des Stadtschulrats nimmt Fioretti jeweils auch an den Sitzungen dieses Gremiums teil. Aus den Protokollen dieser Sitzungen geht hervor, dass Fioretti nach dem politischen Vorstoss seines Parteikollegen Zehnder immer wieder zwei Punkte einbrachte: Der Stadtschulrat habe viel zu spät gehandelt, und von B. gehe Lebensgefahr aus. Es sind dieselben Punkte, die seine Partei seit Februar 2017 bei jeder Gelegenheit öffentlich betont. Sein Motiv ist eindeutig: Es geht um die Diskreditierung des aktuellen Stadtschulrats, der seit den Wahlen im letzten Herbst nicht mehr bürgerlich dominiert ist. Fragen der WOZ über mögliche Interessenkonflikte sowie zum Kollegialitätsprinzip wollte Fioretti nicht beantworten.
Während die SVP laut nach Sicherheit und Ordnung an den Schaffhauser Schulen ruft, verhindert sie im Parlament den Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur, etwa die Einführung von Schulleitungen oder die Aufstockung der Schulsozialdienste. Im Bachschulhaus etwa gibt es nur einen ambulanten, aber keinen fixen Schulsozialdienst.
Die «SN» auf Kurs
Es gab eine zweite Akteurin, die ein Interesse an der Bewirtschaftung des Falles B. hatte: die «Schaffhauser Nachrichten» («SN»). Als letzte verbliebene Tageszeitung im Kanton ist sie unumstrittene Meinungsmacherin.
Die «SN» sind ein stramm bürgerliches Blatt, das sich rühmt, als praktisch einzige Zeitung in der Schweiz 1992 den EWR-Beitritt abgelehnt zu haben. Aussenpolitisch vertritt sie seit Jahrzehnten einen dezidiert antimuslimischen Kurs. Als vor zwei Jahren der 42-jährige Robin Blanck den Posten des Chefredaktors übernahm, erreichte die antimuslimische Haltung zunehmend den Regionalbund.
Im aktuellen Fall nahmen die «SN» am 16. Februar die Interpellation von Zehnder auf. Die Schlagzeile: «Elterngespräch unter Polizeischutz». Über Tage berichteten sie über den Fall, bald zogen überregionale Medien nach, und als die «Weltwoche» Anfang April erstmals berichtete, nahm die Berichterstattung endgültig Züge einer Hetzkampagne an.
Diese ging nicht spurlos an B. vorbei, mit dem die WOZ das Gespräch vergeblich gesucht hat. Mitte Juni tauchte B. trotz Arealverbot in seiner alten Schule auf und löste einen Polizeieinsatz aus. In den «SN» klang das anschliessend so: «Wie sie (Schülerinnen und Schüler, Anm. d. Red.) übereinstimmend sagten, habe der 17-Jährige gerufen: ‹Ihr habt mein Leben versaut! Ich töte euch alle!› Direkt gehört hätten sie diese Aussage allerdings nicht. Sie hätten von ihrer Lehrperson erfahren, dass der Mazedonier dies gegenüber einer weiteren Lehrperson gesagt hätte.» KeineR der von der WOZ befragten LehrerInnen kann diese Information bestätigen.
Wie es im Moment mit B. weitergeht, ist offen. Ans Bachschulhaus wird er jedenfalls nicht zurückkehren können.
* Kevin Brühlmann ist Redaktor bei der «Schaffhauser AZ». Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit der lokalen Wochenzeitung aus Schaffhausen.
Berichtigung vom 13. Juli 2017:
Wir schrieben im Artikel «Plötzlich Terrorschüler» über die «Schaffhauser Nachrichten» («SN»): «Aussenpolitisch vertritt sie seit Jahrzehnten einen dezidiert antimuslimischen Kurs. Als vor zwei Jahren der 42-jährige Robin Blanck den Posten des Chefredaktors übernahm, erreichte die antimuslimische Haltung zunehmend den Regionalbund.»
Diese Darstellung ist teilweise übertrieben und unpräzis. Korrekterweise hätte es heissen müssen: «Die ‹SN› vertreten seit Jahrzehnten einen dezidiert proisraelischen Kurs.» Die Formulierung, dass unter Chefredaktor Blanck «eine antimuslimische Haltung» den Regionalbund erreichte, geht zu weit. Sie bezieht sich auf mehrere islamkritische Kolumnen, die in jüngster Vergangenheit im Regionalteil erschienen sind. Falls unsere Aussage über eine generelle antimuslimische Haltung der «SN» persönlichkeits- oder ehrverletzend aufgefasst wurde, war das nicht unsere Absicht, und wir entschuldigen uns dafür.
Hier finden Sie die im Artikel erwähnten gescannten Original-Protokolle des Schaffhauser Stadtschulrates von November 2016 bis Mai 2017 in einer PDF-Datei gebündelt.
Es sind sämtliche Passagen geschwärzt, die nicht unmittelbar mit dem «Fall Bachschulhaus» zusammenhängen. Ebenso geschwärzt sind sämtliche Personenangaben.