Sachbuch: Paranoia in Schaffhausen
Der Journalist Kevin Brühlmann spürt der 68er-Revolte abseits der Metropolen nach. Und entdeckt etwa die Lehrlingsorganisation Hydra, die den Bundesanwalt wegen Verfolgungswahn interniert sehen wollte.
Idyll und Schrecken liegen auch in der Provinz nah beieinander. Als im Dezember 1968 im pittoresk gelegenen Schaffhausen der Stadtschulrat zusammenkam, ging es nicht um das sonst leidenschaftlich erörterte «Italienerproblem», Gegenstand der Beratung war dieses Mal eine Jugendliche namens Irene Peter, die kurz zuvor eine Veranstaltung des örtlichen Autoklubs besucht hatte, wo sie der Schulvorsteher zufällig noch spät in der Nacht und ohne elterliche Begleitung traf. Da die Fünfzehnjährige, die bei ihrer Mutter lebte, auf eine Belehrung des Vorstehers auch noch patzig reagiert hatte, beschloss nun der Schulrat, eine Heimversorgung zu veranlassen.
In den späteren Protokollen des Rats findet sich nichts mehr zu der Causa – es sei also davon auszugehen, dass Irene Peter tatsächlich «versorgt» wurde, schreibt der Journalist Kevin Brühlmann, der den Fall in seiner historischen Reportage «Schaffhausen muss sterben damit wir leben können» schildert.
Brühlmanns Thema sind aber nicht primär alte Herren, die über das Los junger Frauen befinden. Vielmehr hat sich der 31-jährige Reporter, der im Grenzdorf Thayngen aufgewachsen ist und heute für den «Tages-Anzeiger» arbeitet, zu einer historischen Recherche nach den Spuren der Revolte von 1968 in der Schaffhauser Provinz aufgemacht. So setzt er denen ein Denkmal, die gegen die autoritären Verhältnisse in der Nachkriegsära aufbegehrten – gegen Zustände also, in denen Menschen wie Irene Peter unter die Räder gerieten.
Aufreizend unbedarfte Fragen
In den Jahren um 1968 brodelte es nämlich nicht nur in Paris, Berlin oder Berkeley, sondern auch in der eidgenössischen Provinz, was für die Wucht der globalen Revolte spricht. Und Kommunard:innen gab es nicht nur in der Bundesrepublik, wo Querköpfe wie Uschi Obermaier und Rainer Langhans zu Medienstars wurden, sondern auch in Schaffhausen. Seine Recherchen führten Brühlmann schnell in die Krummgasse 8 in der Altstadt. Dort befand sich Ende der Sechziger zwei Jahre lang die «KG8», eine der ersten Wohngemeinschaften der Stadt und ein wichtiger Treffpunkt. Gegründet hatte sie Barbara Ackermann, ein Arbeiterkind, das auf die Kantonsschule auf dem Emmersberg ging.
Ackermann gehörte zu den jungen Leuten, die den Aufstand probten. Sie hatte damals oft Streit mit den Eltern, haute immer wieder von zu Hause ab, ehe sie schliesslich ihren Vater überredete, die Fünfzimmerwohnung in der Krummgasse anzumieten. Ein halbes Jahrhundert später, als sie Brühlmann durch die inzwischen völlig verfallenen Räumlichkeiten führt, sagt sie: «Wir haben wenigstens gelebt. Wir sind nicht gelebt worden.»
Das klingt pathetisch, insgesamt aber ist Brühlmanns Buch, das aus seiner Masterarbeit am Historischen Seminar der Uni Zürich hervorgegangen ist, in ungezwungenem Tonfall erzählt. Bisweilen sind die Schilderungen seiner Odyssee durch die Zeitgeschichte und weiterer Begegnungen mit früheren Protagonist:innen der 68er-Rebellion sogar ziemlich witzig: Brühlmann orientiert sich stilistisch an der US-Reporter-Ikone Hunter S. Thompson, gibt sich dabei aber weniger als wilden Outcast denn als liebenswürdigen Naivling, der seine Interviewpartner:innen aufreizend unbedarft befragt.
Im Krisenfall bitte wegsperren!
Dabei führt der Journalist eindrücklich die Paranoia vor Augen, die die jungen Leute bei der Elterngeneration provozierten – und die durch vom Kapital alimentierte Thinktanks geschürt wurde; darunter das «Institut für politologische Zeitfragen» mit dem selbsternannten «Subversivenjäger» Ernst Cincera im Beisitz. Rasch wurde die KG8 zu einem Treffpunkt, in dem Nonkonformist:innen ein- und ausgingen, um zu diskutieren, Musik zu hören oder zu kiffen. Das blieb den Behörden nicht verborgen: Bald schon schob in der Gasse ein Zivilpolizist Wache, den die WG-Bewohner:innen ärgerten, indem sie ihn stets freundlich grüssten. Und selbst in die lokale Schülerzeitung wurde ein Spitzel eingeschleust.
Mehr schauderhaft denn amüsant ist das, was Brühlmann über einen Mann namens Arthur Huber recherchiert hat. Dieser war von 1970 bis 1985 Chef der Schaffhauser Stadtpolizei und sagte Sätze wie: «Ein Delinquent bestimmt das Mass der polizeilichen Gewalt.» Das zeugt von einer spektakulären Geringschätzung des Rechtsstaats, und wirklich tat Huber sein Möglichstes, den Aufbegehrenden das Leben schwer zu machen. Wie auch die Schweizer Sicherheitsorgane insgesamt: In der Fichenkartei der Bundespolizei waren die Namen der Mitglieder der linken, auch in Schaffhausen aktiven Lehrlingsorganisation Hydra mit dem Verweis versehen: «Im Krisenfall zu internieren.»
Kein Wunder also, dass die Hydra ihrerseits in einem Flugblatt die «Psychiatrisierung» des damaligen Bundesanwalts Hans Walder «wegen krankhaften Verfolgungswahns» forderte. Der Lehrlingsorganisation schenkt Brühlmann besondere Aufmerksamkeit – nichtakademische Bewegungen seien historiografisch häufig marginalisiert worden, schreibt er. Seine unterhaltsame wie lehrreiche Geschichtsreportage führt dagegen vor Augen, dass die grossen gesellschaftlichen Umbrüche sich auch im Kleinen ausmachen lassen – wenn man nur genau genug hinschaut.
Kevin Brühlmann: Schaffhausen muss sterben damit wir leben können. Die Revolte von 1968 in der Provinz. Verlag am Platz. Schaffhausen 2021. 243 Seiten. 39 Franken