Hundert Jahre «Schaffhauser AZ»: Demontage im Kaff

Nr. 47 –

Die letzte Arbeiterzeitung der Schweiz gewinnt mit einem Generationenwechsel neue LeserInnen und sorgt mit gut recherchierten Reportagen und politischen Analysen in Schaffhausen für Aufsehen.

Keine Angst, anzuecken: Die «AZ»-MacherInnen Marlon Rusch, Bernhard Ott, Jimmy Sauter, Kevin Brühlmann, Nora Leutert, Mattias Greuter und Peter Pfister. Foto: Peter Pfister

Kurz vor Schaffhausen steht die Gruppe Betriebsausflug im Zugabteil auf und schaut in Fahrtrichtung rechts aus dem Fenster: So wenig Wasser hatte der Rheinfall noch nie! Diese Fahrgäste sind nicht die einzigen in der Regionalbahn, die bis zur Ankunft am Bahnhof den Wasserstand diskutieren. Von dort dauert es drei Minuten bis zur Redaktion der «Schaffhauser Arbeiter-Zeitung» («AZ»). Genug Zeit, einen nervtötenden Ohrwurm über dieses Provinzstädtchen wachzurufen: «Bloos ä chliini Stadt mit bürgerliche Wänd, bloos ä chliini Stadt, wo ein dä ander kännt …»

Klein, bürgerlich und ein Filz, wo jeder jeden kennt: Für viele ein Grund, weit weg in eine grössere Stadt zu ziehen. Für die junge Redaktion der «Schaffhauser AZ» – fast alle gebürtige SchaffhauserInnen – hingegen ein Grund, zu bleiben, und vor Ort investigativen Lokaljournalismus mit linker Haltung zu betreiben. Das passt nicht allen. Einige Lokalgrössen hätten sich anfangs ganz schön «as Bei pisst» gefühlt, erzählt Mattias Greuter, Koredaktionsleiter und einer der sechs RedaktorInnen, die im Frühjahr 2017 das Ruder der «AZ» übernommen haben. Regierungsräte, die Polizeidirektorin oder der Bauvorsteher hätten öfter aufgebracht angerufen und gefragt, warum denn so kritisch berichtet werde. Nach einer Reportage von Redaktor Jimmy Sauter über Vetternwirtschaft bei der Polizei verkündete die Polizeidirektorin per Brief einen Informationsstopp für die «AZ». Es habe einen Moment gedauert, bis die BewohnerInnen der Stadt akzeptiert hätten, dass diese jungen JournalistInnen von nun an eine Zeitung machen würden, wie sie es für richtig hielten: gut recherchiert, ohne Angst, anzuecken. Die «AZ» demontiert in Schaffhausen, was lange Zeit unangetastet blieb: die Stadtklüngelei.

Oktopus im Fleischwolf

Die sechs JournalistInnen passen an einen einzigen Tisch in der engen Redaktion, Fotograf Peter Pfister stösst mitten in der Sitzung dazu, danach auch eine Leserin, die diese Woche keine «AZ» im Briefkasten hatte und sich kurzerhand eine vom Tresen schnappt. An der Wand hängt ein Plakat mit dem in flagranti erwischten Wurstmacher Schaffhausens, der einen Oktopus in den Fleischwolf stopft, darunter der Slogan «Die AZ deckt auf». Der zweite Koredaktionsleiter Marlon Rusch ist überzeugt: «Gute Geschichten gibts in jedem Kaff, es muss nicht immer Kavanaugh sein.» Wie fast alle der neuen «AZ»-Generation hat er mit Anfang zwanzig als Brotjob für die Kulturbeilage der Zeitung zu schreiben begonnen, das ist nun zehn Jahre her.

Die Schaffhauser AZ ist ein Urgestein. Als letzte überlebende traditionelle Arbeiterzeitung feiert sie gerade ihr Hundert-Jahr-Jubiläum. Am 30. November 1918, zwei Wochen nach dem abgebrochenen Landesstreik, wurde die erste Ausgabe gedruckt. Hundert Jahre später ist die «AZ» nicht mehr Parteiblatt der SP oder – wie sie es phasenweise auch war – der Kommunistischen Partei, sondern eine unabhängige Stimme in der Einöde der Schaffhauser Medienlandschaft: Neben der «AZ» sind da noch die SVP-nahen «Schaffhauser Nachrichten» («SN»), die alle Lokalzeitungen der umliegenden Gemeinden in ihrem Verlag versammelt und dennoch sinkende Auflagezahlen hat. Obwohl die SchaffhauserInnen überwiegend bürgerlich wählen, seien die «SN»-LeserInnen mit deren Berichterstattung nicht zufrieden, meint Greuter. Dann zückt er ein Diagramm mit einer zwischen 2004 und 2016 abfallenden und seit 2017 steil ansteigenden Kurve: Auch bei der «AZ» brachen phasenweise die Abozahlen und der Inseratemarkt ein, mittlerweile gewinnt sie im Schnitt vier neue AbonnentInnen mit jeder Ausgabe – ein weiterer Grund, zu feiern, am 23.  November wird das auch offiziell getan.

Flinkes Themenhüpfen

Das Rinnsal, das vom Rhein übrig bleibt, hat bei unserem Besuch Ende Oktober auch auf der Redaktion heissen Nachrichtenwert: Energieversorgung, Tourismus, Klimawandel, ein verpönter Rheinfallkönig sind die Tentakel, die vom Komplex «Rheinwasserstand» ausgehen. Man nimmt sich viel Zeit, um eigene Zugänge zu Geschichten zu finden. Flink hüpfen die sechs JournalistInnen an dieser vierstündigen Redaktionssitzung zwischen Themen hin und her. Uneingeweihte haben keine Chance, zu folgen: «Wett de Fioretti de Amsler abschüüsse?» – «Sicher wotter dä Amsler abschüüsse.» – «Letscht Mol händ sich zwei alti Intimfeinde ide Turnhalle Schlatt beschumpfe, damol triffter d Martina im Sääli.» – «Kenneder dä Flury, ez hätter es Buech gschribe us de Sicht vo sim vostorbene Hund.» – «Ou nei, i ha denkt, da seg eifach irgendsonen Bürger.» – «Übrigens, sin Hund hät Bilbo gheisse», wirft Bernhard Ott im Vorbeigehen ein, der mittlerweile pensionierte Verleger, der trotzdem noch immer mitarbeitet. Die RedaktorInnen beschliessen, die Rheingeschichte fliesse nicht davon, und vertagen sie auf eine spätere Ausgabe.

Öffentlichkeitsprinzip verteidigt

Ihre Zeitung haben die MacherInnen von allem befreit, was sie nicht können. Stattdessen setzen sie auf das, was sie im Griff haben: regionalen Journalismus, der oft viel bewirkt. Schweizweit wurde darüber berichtet, wie die «AZ» eine Verordnung der grossen Parteien Schaffhausens verhinderte, die das öffentliche Akteneinsichtsrecht aushebeln sollte. Die Redaktionsmitglieder hatten gemeinsam mit der Alternativen Liste das Referendum ergriffen – und den EinwohnerInnen erklärt, warum das Öffentlichkeitsprinzip eines der wichtigsten Werkzeuge für JournalistInnen ist. Die Vorlage wurde von der Stimmbevölkerung hochkant abgeschmettert. Auch eine jüngere, von der «AZ» publik gemachte Geschichte über die Schaffhauser Kantonalbank, die ihr gesamtes 130-jähriges Archiv durch den Schredder gejagt hatte mit der Begründung, es gebe ein Recht auf Vergessen, schlug Wellen. Weiteres Beispiel: Für seine Walmart-Geschichte gewann Redaktor Kevin Brühlmann den Reporterpreis 2017.

Walmart? Was hat die grösste amerikanische Supermarktkette und das umsatzstärkste Unternehmen der Welt in Schaffhausen verloren? Nur einen roten (Steuervermeidungs-)Briefkasten. Kevin Brühlmann hatte die virtuell in Schaffhausen sesshafte Firma über Wochen ausspioniert und die schwer ausfindig zu machenden Kontakte unermüdlich per Telefon geärgert. Er fand kein Büro, dafür traurige, aber wahre Pointen wie jene, dass von den über zwei Millionen Walmart-Angestellten gerade mal zehn einer Gewerkschaft angehören.

Noch ist die Zeitung nicht selbsttragend, ungefähr eineinhalb Stellen sind von GönnerInnen finanziert: Man leistet sich den gut recherchierten Journalismus. Auch sind die Bande zur lokalen SP nicht völlig gekappt, die AktionärInnen der «AZ»-Aktiengesellschaft kommen weitgehend aus ihrem Umfeld. Trotzdem wollen die RedaktorInnen gegenüber der SP oder der AL inhaltlich ihre Unabhängigkeit wahren. Ob sie sich noch als Arbeiterzeitung verstehen? Man wird im neuen Logo damit kokettieren, aber eher als Scherz. Der Name sei ein Relikt, das auf die linke Tradition verweise. Die MacherInnen aber wollen in der «AZ» trotzdem eine Stimme sehen, die sich für die sozial Schwächeren einsetzt und Machtmissbräuche aufdeckt. Nur eben in ihrem eigenen Stil.

Das Jubiläumsbuch

Zu ihrem hundertjährigen Geburtstag schenkt sich die «Schaffhauser AZ» ein Buch über sich selbst. Es trägt den passenden Titel «Wir sind da und bleiben da. Vom Klassenkampf zur Recherche». Verfasst hat das reich bebilderte Buch der Wirtschaftshistoriker Adrian Knoepfli. Gekonnt bettet er die Geschichte des Schaffhauser Lokalblatts in nationale Politik- und Medienenprozesse ein, was die Lektüre auch für LeserInnen südlich des Rheins interessant macht.

Adrian Knoepfli: «Wir sind da und bleiben da». Verlag am Platz, Schaffhausen 2018. 191 Seiten. 30 Franken.

150 Jahre «Le Courrier» : «Immer gegen die Mehrheitsverhältnisse»

Neben der «Schaffhauser AZ» feiert dieses Jahr in der Schweiz noch eine weitere linke Zeitung Geburtstag: «Le Courrier» aus Genf. Stolze 150 Jahre alt ist die überregionale Tageszeitung aus der grössten Stadt der Romandie 2018 geworden. Ihr Jubiläum feierten die ZeitungsmacherInnen am letzten Wochenende mit einem rauschenden Fest im Gemeindesaal Plainpalais. «Es war unglaublich», sagt die noch immer aufgekratzte Laura Drompt am Telefon. «2200 Leute kamen zu unserem Fest. Um 4.30 Uhr mussten wir die Letzten rauswerfen. Für uns war das Fest ein Energieschub», so die dreissigjährige Ko-Chefredaktorin des «Courrier».

Dabei ist es ein ziemliches Wunder, dass «Le Courrier» so lange überlebt hat. Berauschend waren die Zeiten selten, mehrmals stand die Zeitung vor dem Aus, es gab gewaltige Brüche und Richtungswechsel. Gegründet wurde «Le Courrier» 1868 als stockkonservatives katholisches Kampfblatt im protestantischen Genf, der Verkauf fand an den katholischen Kirchentüren statt. Bald stieg die Auflage auf bis zu 4000 Exemplare. Als 1907 im Kanton Genf die Trennung von Kirche und Staat erfolgte, verlor der «Courrier» sein wichtigstes Kampffeld und drohte in der Versenkung zu landen. Die Wende erfolgte in den zwanziger Jahren6 mit einer inhaltlichen Neuausrichtung: Aus dem katholisch-konservativen Blatt wurde eine christlich-soziale Zeitung. Die Verkaufszahlen stiegen deutlich an, doch der katholischen Besitzerin war die Berichterstattung zu links, sie entliess den damaligen Chefredaktor René Leyvraz – um ihn zehn Jahre später wieder einzustellen, weil der katholische Kurs bei den LeserInnen nicht gut ankam.

Als der «Courrier» Anfang der achtziger Jahre erneut in der Krise steckte und kaum noch 3000 AbonnentInnen aufwies, folgte die nächste inhaltliche Neuausrichtung als humanistisch geprägtes Blatt mit einem Fokus auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Dies führte 1996 zum endgültigen Bruch mit der katholischen Kirche – und zu einer schmerzhaften finanziellen Einbusse, denn die Société catholique romaine hatte «ihre» Zeitung jährlich mit 250 000 Franken subventioniert. «Andererseits gewann die Zeitung damals etwas, das heute unser höchstes Gut ist: die Unabhängigkeit», sagt Laura Drompt. Die letzten 150 Jahre waren ein wilder Ritt – doch Drompt sieht durchaus eine Konstante in der Geschichte: «‹Le Courrier› war immer gegen die Mehrheitsverhältnisse.»

Heute steckt die unabhängige und linke Zeitung, die nur geringfügig von Werbeeinnahmen abhängig ist, in einer relativ stabilen Phase. Die Zahl der AbonnentInnen hat sich bei 8500 eingependelt. Diese Zahl will man zumindest halten, «mit gut recherchiertem Journalismus und einer klaren linken Haltung», wie Drompt sagt. Ein grosser Sprung nach vorne hingegen scheint derzeit eher unrealistisch, weil in der Romandie in den letzten Jahren ein wahres Zeitungssterben stattgefunden hat und der LeserInnenmarkt stetig geschrumpft ist.

Jan Jirát