Durch den Monat mit Jo Lang (Teil 2): Wie reagierten Sie auf Antisemitismus im Klassenzimmer?

Nr. 27 –

Dass er unter muslimischen Jugendlichen zuweilen antisemitische Tendenzen wahrnimmt, will Jo Lang nicht leugnen. In der Form entdeckt der Historiker allerdings hausgemachte Spurenelemente.

Jo Lang: «Ein Grossteil der muslimfeindlichen Kräfte von heute sind einfach die judenfeindlichen von gestern.»

WOZ: Jo Lang, es ist derzeit viel darüber zu hören und zu lesen, dass in Europa der Antisemitismus erstarke – speziell innerhalb der muslimischen Bevölkerung. Haben Sie als Berufsschullehrer das persönlich auch so wahrgenommen?
Jo Lang: In einigen meiner Klassen sind heute bis zur Hälfte der Lehrlinge Musliminnen und Muslime. Und wenn ich auf die vergangenen zwanzig Jahre zurückblicke, dann hat die Judenfeindlichkeit in dieser Zeit tatsächlich zugenommen. Allerdings habe ich noch nie ein spezifisch islamisch-religiöses Argument gegen Juden gehört.

Sondern?
Judenfeindliche Äusserungen muslimischer Jugendlicher setzen sich in meiner Erfahrung aus zwei Elementen zusammen. Auf der einen Seite geht es um den Nahostkonflikt, also darum, was der israelische Staat den palästinensischen Menschen antut. Die Identifikation junger Muslime mit Palästina ist ebenso logisch wie die der Afroamerikaner mit den Schwarzen in und um Südafrika zur Zeit der Apartheid. Die Gleichsetzung von Israel und den Juden wird kombiniert mit eindeutig abendländisch-antisemitischen Versatzstücken. Beispielsweise mit Stereotypen wie: Juden sind reich, mächtig, und sie schotten sich von der Gesellschaft ab.

Wie reagierten Sie als Lehrer auf Antisemitismus? Als Historiker befassen Sie sich schliesslich intensiv damit.
Zunächst einmal habe ich das Thema natürlich in den Schulklassen diskutiert. Dabei merkte ich jeweils, dass die Judenfeindlichkeit muslimischer Jugendlicher eine sehr schwache inhaltliche Kohärenz hat – ganz anders als der abendländisch-christliche Antisemitismus, dem ich als Historiker begegne. Dieser baut wesentlich auf dem Gottesmord-Vorwurf auf, der im christlichen Nationalismus zur Ausgrenzung aus der Nation führte.

Er bildet den Kern der breit angelegten Hasskonstruktion?
Ja, denn ohne die Ungeheuerlichkeit des Gottesmord-Vorwurfs lässt sich etwa die breite Akzeptanz für die Politik der Nazis nicht erklären.

Und trotzdem: Das Problem der Judenfeindlichkeit unter muslimischen Jugendlichen existiert, und man muss es ernst nehmen. So zeigte ich jeder Klasse den Film «Mississippi Burning» von Alan Parker aus dem Jahr 1988. Er basiert auf der wahren Geschichte von zwei jüdischen Bürgerrechtlern, die Mitte der sechziger Jahre in den USA vom Ku-Klux-Klan ermordet wurden, weil sie in die Südstaaten gefahren waren, um sich für die Rechte der Schwarzen einzusetzen. Der Film löste immer Erstaunen aus.

Warum Erstaunen?
Die meisten Schüler, insbesondere die Muslime, identifizierten sich mit den unterdrückten Schwarzen – und mit ihren Helfern, den beiden «Judenbengeln». Ich erzählte ihnen dann jeweils von der Verfolgung der Juden und der daraus resultierenden Sensibilität für andere Minderheiten. Das gab den meisten zu denken. Erst recht, wenn sie erfuhren, dass nur ein Viertel der US-amerikanischen Juden für Trump gestimmt haben.

Wir können keinesfalls über Antisemitismus reden, ohne auch die wachsende Islamophobie in Europa anzusprechen. Es gibt Parteien, die ihre gesamte Existenz auf der Muslimfeindlichkeit aufbauen.
Muslimfeindlichkeit ist heute in Westeuropa tatsächlich stärker verbreitet als Judenfeindlichkeit. Die grassierende Islamophobie war für viele meiner muslimischen Schüler demütigend und belastend, obwohl sie ebenso selten die Moschee besuchen wie ihre christlichen Mitschüler die Kirche. Ein Grossteil der muslimfeindlichen Kräfte von heute sind einfach die judenfeindlichen von gestern. Nun stellt sich die Frage: Haben sie ihren Antisemitismus ersetzt? Oder die Muslimfeindlichkeit bloss darübergestülpt? Ich bin zwar der Ansicht, dass bei den meisten Letzteres der Fall ist. Trotzdem gibt es heute in Europa womöglich erstmals einen Rechtsextremismus, der ohne Judenfeindlichkeit auskommt. Der norwegische Massenmörder Anders Breivik ist ein Beispiel dafür.

Wie erkennen Sie denn, ob der Antisemitismus abgelöst oder bloss antiislamisch übertüncht wurde?
Der wichtigste Teil ist, wie sich die Betreffenden zur judenfeindlichen Vergangenheit ihrer Organisation oder Tradition stellen. In Frankreich etwa hat sich durch die Auseinandersetzung um die Verantwortung für die Verhaftung und den Wegtransport französischer Juden gezeigt, dass Marine Le Pen ähnlich denkt wie ihr Vater Jean-Marie.

Und in der Schweiz?
Vor allem die SVP und die CVP haben eine judenfeindliche Vergangenheit. Da frage ich: Wie stehen ihre heutigen Exponenten etwa zum Bergier-Bericht, insbesondere zur «Das Boot ist voll»-Politik der Schweiz? Bei der SVP gibt es noch aus den neunziger Jahren Zeugnisse des Antisemitismus. Beispielsweise hat sie in einem ganzseitigen Inserat den Begriff «goldener Internationalismus» verwendet oder die damalige Nazigolddebatte mit dem Stereotyp des geldgierigen Juden verknüpft.

1981 hätte Jo Lang (63) im Heimatkanton Zug gerne als Gymnasiallehrer gearbeitet. Gegen den unbequemen Systemkritiker war dort aber bereits ein Berufsverbot verhängt worden.