Türkische Wirtschaftspolitik: Europas abtrünniger Sohn

Nr. 31 –

Recep Tayyip Erdogan galt einst als Hoffnungsträger für Demokratie und freie Marktwirtschaft. Dass er mit der Demokratie gebrochen hat, wollen ihm Europas Eliten noch verzeihen. Doch nun, da er sich an ihre Wirtschaftsinteressen macht, wird es ernst.

Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am 16. April seine Verfassungsreform an der Urne durchbrachte, mit der er sich zum Alleinherrscher gemacht hat, zeigten sich die Investoren erfreut: Die Aktienkurse der hundert grössten Firmen der Istanbuler Börse machten in den folgenden Tagen einen weiten Sprung nach oben.

Entgegen der schönen Theorie, nach der der Kapitalismus der natürliche Alliierte der Demokratie ist, zeigt sich hier: Oft bevorzugen Investoren den Autoritarismus, zumindest wenn er ihnen Stabilität und eine wirtschaftsfreundliche Politik verspricht. Genau das tat die türkische Regierung im Abstimmungskampf für die Verfassungsreform. Eben kürzlich hat sie ihr Versprechen von Wirtschaftsreformen wiederholt.

Calvin in Anatolien?

Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ist der Gegenbeweis für eine weitere verbreitete Theorie, die seit der Kolonialzeit besteht, nach der der Islam die kapitalistische Entwicklung hemmt: Die Wiege der AKP liegt im religiösen, konservativen Zentralanatolien, das ab den achtziger Jahren einen rasanten ökonomischen Aufschwung erlebte. Die Kleinstadt Kayseri verwandelte sich innerhalb einer Generation in eine Wirtschaftsmetropole mit 1,3 Millionen EinwohnerInnen, aus der Sofas, Textilien oder Zucker in die ganze Türkei verkauft werden – und darüber hinaus. In den neunziger Jahren erhielten Städte wie Kayseri einen neuen Übernamen: anatolische Tiger.

Der ehemalige Bürgermeister von Kayseri, Sükrü Karatepe, begann damals, die Idee zu verbreiten, dass der zentralanatolische Islam eine «protestantische Ethik» aufgesogen habe. Dies in Anspielung auf die These des Soziologen Max Weber, der in der calvinistischen Revolution die Wurzel des Kapitalismus sah.

Zentralanatolien ist nicht nur WählerInnenhochburg der AKP, auch viele Parteikader kommen von hier. Der prominenteste unter ihnen ist Abdullah Gül: Gül, der aus Kayseri stammt, gründete 2001 mit Erdogan die AKP und wurde ein Jahr darauf Ministerpräsident und 2007 Staatspräsident, bevor er von Erdogan – der selber in Istanbul und am Schwarzen Meer aufwuchs – in beiden Ämtern beerbt wurde. Kayseris Exbürgermeister Karatepe ist inzwischen Erdogans Chefberater.

Der Liberalisierer

Als die AKP 2002 mitten in einer tiefen Wirtschaftskrise – die einen Grossteil der alten politischen Eliten hinweggefegt hatte – die Wahlen gewann, übernahm die Partei den knallhart wirtschaftsliberalen Kurs, den der Internationale Währungsfonds (IWF) dem Land diktierte. In den darauffolgenden Jahren kürzte die AKP die Staatsausgaben, liess die Zentralbank die Zinsen erhöhen, privatisierte öffentliche Betriebe, liberalisierte den Arbeitsmarkt und senkte die Firmensteuern von 33 auf 20 Prozent.

Die Wirtschaft gewann an Fahrt. In den ersten fünf Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) durchschnittlich um fast sieben Prozent – die Arbeitslosigkeit ging zumindest leicht zurück. Ein Grund dafür liegt im allgemeinen globalen Aufschwung dieser Jahre – in denen andere Schwellenländer wie Argentinien, Indien oder China gar ein noch höheres Wachstum verzeichneten. Ein anderer Grund liegt bei den ausländischen Investoren, die Erdogan mit seinen harten Reformen ins Land holte.

Neben kurzfristigem Börsenkapital flossen auch Direktinvestitionen, also grössere Investitionen zur Kontrolle einer Firma. In den ersten fünf Jahren explodierte deren Gesamtsumme von 19 auf 155 Milliarden US-Dollar. Ein grosser Teil der Direktinvestitionen kam aus Deutschland. Inzwischen sind deutsche Unternehmen in der Türkei an über 6500 Firmen beteiligt oder kontrollieren sie gleich ganz.

Jene TürkInnen, die vom Aufschwung profitierten, dankten dies Erdogan, der 2003 Ministerpräsident wurde, indem sie ihm bei den Wahlen 2007 die absolute Mehrheit verschafften. Die Regierungschefs der EU hatten ihn bereits 2004 belohnt, als sie der Türkei am 21. Dezember die Eröffnung von offiziellen Gesprächen über eine Mitgliedschaft verkündeten. Es war Erdogans grosse Siegesstunde.

Damals noch galt die AKP als Beweis dafür, dass der Islam nicht nur mit dem Kapitalismus vereinbar ist, sondern auch mit der Demokratie. Die islamistische AKP war durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen und stellte nach Amtsübernahme ihr Bekenntnis zur Demokratie auch unter Beweis: Sie schaffte die Todesstrafe ab, stärkte die Menschenrechte, weitete die Meinungsfreiheit aus und lockerte die jahrelange Unterdrückung der KurdInnen.

Ab 2007 änderte sich das. Zum einen wurde Erdogan immer autoritärer: Er stutzte die Menschenrechte, legte JournalistInnen den Maulkorb an und entfachte den Krieg gegen die KurdInnen neu. Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 folgten Massenverhaftungen, im April das Verfassungsreferendum. Zum anderen wurde er immer nationalistischer: Inzwischen beschwört er einen Kampf der Zivilisationen, was darin gipfelte, dass er der deutschen Regierung – die AKP-Politikern Auftritte in Deutschland verboten hatte – Nazimethoden vorwarf.

Mit dem Islam hat diese Kehrtwende nichts zu tun. Die Gründe liegen anderswo: 2007 musste Erdogan erfahren, dass die Demokratie auch ihm Grenzen setzt. Gül brauchte zwei Anläufe, um gegen heftigen Widerstand – der den Staat lahmlegte – als Präsident gewählt zu werden. Es folgte die globale Finanzkrise, die das Wachstum zum Einstürzen brachte, die Grundlage seiner Wahlerfolge. Während er an Rückhalt zu verlieren drohte, wuchs die Opposition, die sich 2013 in wochenlangen Protesten auf dem Taksimplatz in Istanbul entlud – 2016 folgte der Putschversuch. Und schliesslich ist da noch Erdogans Erkenntnis, dass die EU trotz noch so grosser Anstrengungen der Türkei diese nicht als Mitglied will.

Der Autoritarismus dient Erdogan dazu, seine GegnerInnen ohnmächtig zu hinterlassen. Und der Nationalismus dazu, seine AnhängerInnen zu mobilisieren.

Deutschlands rote Linie

Europa hat diese Politik bisher leise geschluckt. Bis vor kurzem hat Erdogan Europas Interessen weitgehend gewahrt – warum sollte man das aufs Spiel setzen? Die Türkei ist nicht nur ein guter Investitionsstandort und Exportabnehmer. Die EU profitiert seit 2016 auch vom Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Doch die Lage ändert sich: Investoren schätzen vielleicht Erdogans Autoritarismus, der ihnen Wirtschaftsreformen verspricht. Doch sein unberechenbarer Nationalismus, der Unsicherheit im Land verbreitet, schadet ihren Interessen.

Das Ergebnis: Seit 2014 sind die ausländischen Direktinvestitionen von 182 auf 133 Milliarden US-Dollar gefallen. Das Wachstum lahmt, gleichzeitig liegt die Inflation bei über zehn Prozent, die Arbeitslosigkeit bei rund zwölf.

Eine entscheidende Wende ereignete sich vorletzte Woche, als bekannt wurde, dass Erdogan eine Liste mit rund 700 deutschen Firmen nach Berlin geschickt hatte, denen er «Terrorunterstützung» vorwirft – darunter BASF und Daimler. Einen Tag darauf trat SPD-Aussenminister Sigmar Gabriel vor die Medien und kündigte eine «Neuausrichtung» der Türkeipolitik an: Gabriel warnte deutsche Firmen vor Investitionen in der Türkei und gab eine Verschärfung der Reisehinweise bekannt. Ein harter Schlag für ein Land wie die Türkei, das bisher über zehn Prozent des nationalen Einkommens mit dem Tourismus verdient hat.

Als Hauptgrund für seine Kehrtwende nannte Gabriel zwar die Verhaftung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner, die am Tag zuvor bekannt geworden war. Gabriel weiss, dass diese Begründung viel eher die Herzen der Deutschen trifft, doch der Hauptgrund für die Strafmassnahmen dürfte eher in Ankaras Terrorliste von deutschen Firmen zu suchen sein. Aussenpolitik ist Realpolitik – und sitzen mit Deniz Yücel und mehreren anderen nicht bereits seit Monaten deutsche StaatsbürgerInnen in Untersuchungshaft?

Zudem scheint auch Erdogan davon auszugehen, dass es die Terrorliste war, mit der er Berlins rote Linie überschritten hat: Einen Tag nach Gabriels Auftritt teilte der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci mit, dass seine Regierung deutsche Investitionen «zu hundert Prozent» garantiere, drei Tage später zog Ankara die Liste zurück. Der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner bleibt derweil in Haft.