Von oben herab: Freisinnige Internationale

Nr. 36 –

Stefan Gärtner über die FDP hüben und drüben

Über die Schweizer Parteien weiss man im Reich nicht viel, am meisten noch über die SVP, die mit einigem Abstand am häufigsten in der Zeitung steht. Der Rest lässt sich leicht zusammenreimen: Die CVP ist eine Art CDU, der SP fehlt, logo, das D, und die FDP ist die FDP, nur dass sie sich «freisinnig» nennt statt «frei».

Diese Freiheit verkörpert der Vorsitzende der deutschen FDP, Christian Lindner, indem er sich im Bundestagswahlkampf als cooler Modernist plakatieren lässt. «Digital first, Bedenken second», was spätestens dann keine schlechte Idee mehr ist, wenn wir ein wenig damit spielen: «Atomkraft first, Bedenken second» oder «Hitler first, Bedenken second».

Noch lustiger wirds, wenn man erfährt, dass der niedersächsische Landesverband der FDP das Wahlplakat wörtlich genommen und Wahlunterlagen online gestellt hat: «Mit Passwort und Link landet man bei einem Tool namens ‹FDP-Maps›, mit dem sich angeblich feststellen lässt, wo potentielle Wähler der Liberalen wohnen», die nämlich «Interesse an Anlageprodukten» oder «an Delikatessen, Wein, Kunst, Antiquitäten» haben, gern Golf spielen oder segeln gehen – «genau gegen dieses Klischeebild wehrt sich die FDP seit Jahren», so der Mitteldeutsche Rundfunk füglich feixend.

Auch der Schweizer Freisinn gibt sich alle Mühe, die «kälteste Partei der Schweiz» zu bleiben, in der «kalte Kräfte Karriere» machen, laut jedenfalls Frank A. Meyer im «SonntagsBlick»: «Zum Beispiel die FDP-Präsidentin Petra Gössi, die AHV-Bezüger jüngst verhöhnte: Diese liessen sich mit der Staatsrente ihren Lebensabend vergolden. Ja, die Schwyzerin weiss, was freisinnige Töne sind. Ignazio Cassis muss es noch lernen.» Weil er nämlich der aussichtsreichste Kandidat für den frei werdenden Bundesratsitz von Didier Burkhalter ist und, folgen wir Meyer, eine echte Ausnahmeerscheinung: «Ignazio Cassis ist ein neugieriger Mensch, ein Leser, wie eine Freundin zu erzählen weiss, ein Filmliebhaber auch, ein gebildeter Zeitgenosse, ein nachdenklicher Politiker, ausgestattet mit Lust an der Debatte und dem Talent dazu – fast möchte man sagen: ein Intellektueller», so wie der «Politiker und Intellektuelle» (ZDF) Lindner, der studiert hat, in Berlin wohnt und vollständige Sätze bilden kann. «Wobei man beim Bundeshaus-Freisinn den Begriff ‹Intellektueller› wohl erst im Duden nachschlagen muss», so wie der Frank A. Meyer den Begriff «Lobbyist», denn just das lesen wir nicht, dass Cassis sich als solcher, für die Krankenkassen nämlich, den schönen Ehrentitel «Kranken-Cassis» verdient hat.

Gleichwohl eignen ihm, seinem Fan vom «Blick» zufolge, «soziale Sensibilität» und «kulturelle Neugier», «dem Freisinn einigermassen fremde Qualitäten», die den Tessiner Amtsarzt, behauptet Meyer, aus taktischen Gründen zu «knallharten FDP-Formulierungen» wie dieser zwängen: «Wir brauchen doch keinen Dauerschutz, als ob wir ein Leben lang Teenager blieben. Scheitern gehört zu unserem Dasein.»

Da sehe ich gleich den liberalen Kollegen Lindner vor mir, der als Jungunternehmer Pleite gemacht hat und jetzt wieder obenauf ist, und wenn Christian Lindner das kann, kann das – Stichwort Chancengesellschaft – der nächstbeste Problemsiedlungs-Schulabbrecher erst recht, und dass ers aber nicht kann, dafür stehen die FDPen dieser Welt samt ihren bedenkenlosen Intellektuellen, tragen sie nun gute Anzüge oder solche, die nach Krankenkasse aussehen.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.