Kommentar: Liberal statt links
Nach der Bundestagswahl dreht sich alles um FDP und Grüne, denn fehlenden Antikommunismus wollen sich die Deutschen zuallerletzt nachsagen lassen.
Für Sensationsgierige war die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag eine denkbar dankbare: Entweder Armin Laschet, Spitzenkandidat der CDU, würde abschmieren, nach sechzehn Jahren ungefährdeter CDU-Herrschaft unter Angela Merkel, oder, dies sogar das grössere Ereignis, er würde die Umfragen Lügen strafen und es doch noch packen, wenn schon nicht als Champ, so doch wenigstens als Sieger.
Es blieb bei der kleineren Sensation: So schlecht wie am Sonntagabend hat die Christlich Demokratische Union Deutschlands noch nie zuvor bei Bundestagswahlen abgeschnitten. Mit 24,1 Prozent bleibt sie 1,6 Punkte hinter der SPD, deren Spitzenkandidat Olaf Scholz die Voraussagen bestätigte, wonach seine furiose, aus einer sterbenskranken SPD eine ernstliche Konkurrenz machende Aufholjagd mit dem Wahlsieg enden würde. Scholz hatte, wie man so sagt, einen Lauf, Laschet hatte keinen. Manchmal reicht das.
Die FDP wird es sich bezahlen lassen
Laschet gab sich in der «Berliner Runde» von Erstem und Zweitem Deutschen Fernsehen denn auch alle Mühe, die Fallhöhe kleinzureden. Es gehe ja gar nicht um ihn, sondern um den demokratischen Auftrag, «aus der Mitte des Bundestages» heraus eine Kanzlermehrheit zu organisieren. Übersetzt hiess das: Nicht die stärkste Partei muss den Kanzler stellen, sondern die plausibelste, in diesem Sinne demokratischste Mehrheit. Für Laschet ist das eine aus CDU/CSU, FDP und Grünen: «Jamaika».
Ähnlich argumentierten am selben Ort die umworbenen Partner, nämlich Grüne (14,8 Prozent) und Liberale (11,5), freilich aus stärkerer Position. Die grüne Spitzenfrau Annalena Baerbock, die im Frühjahr noch Ambitionen aufs Kanzleramt haben durfte, hat eine stille Präferenz für die Ampel aus SPD, FDP und Grünen, Christian Lindner eine unverhohlene für das von Laschet projektierte Bündnis, das, wollen Umfragen wissen, auch die klare Präferenz der FDP-Wählerschaft ist.
Vor vier Jahren hatte Lindner Jamaika noch mit dem geflügelt gewordenen Satz ausgeschlagen, es sei besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Jetzt kann er sich die Sentenz, für die er viel Prügel hat einstecken müssen, als Ausweis von Prinzipienfestigkeit gutschreiben lassen, denn jetzt ist er der Kanzlermacher. Er wird es sich bezahlen lassen.
Plötzlich diese Möglichkeiten
Rein rechnerisch zwar könnten Union und SPD die Grosse Koalition auch fortsetzen, aber davon war einen Fernsehwahlabend lang nicht mit einem Wort die Rede. Die SPD hat sie nicht mehr nötig, und für die geschlagene CDU wäre sie so demütigend, dass sowohl Laschet als auch der CSU-Vorsitzende Söder sich geradezu begeistert von den «Möglichkeiten» zeigten, die das Wahlergebnis biete: Erneuerung nämlich bei gleichzeitiger Stabilität.
Möglichkeiten, die es wohl nur deshalb gibt, weil die CDU, und zwar gegen den Willen ihrer Basis, statt Söder Laschet antreten liess, so wie es wohl nicht allzu steil ist anzunehmen, dass ein grüner Kandidat Robert Habeck am Schluss der Kampagne nicht so furchtbar viel Boden verloren hätte wie Baerbock, die sich in Vorwürfen wegen eines zurechtgebügelten Lebenslaufs und abgeschriebener Buchpassagen verfing.
Gut möglich also, dass bereits die Kür von schwarzem Kandidat und grüner Kandidatin diese Wahl entschieden hat, denn Olaf Scholz hat zuallererst vom so profil- wie glücklosen Laschet profitiert. Scholz’ Stärke wiederum hat Die Linke, die unter die Fünf-Prozent-Hürde gerutscht ist, zur zweiten grossen Verliererin werden lassen: Nicht nur ist eine starke SPD die natürliche Feindin der Linkspartei; wahr ist vor allem, dass, wie Söder freundlich höhnte, die Deutschen Rot-Rot-Grün nicht wollen, mindestens auf Bundesebene nicht, dass also die vulgäre Kampagne wider Linksruck, Volksfront und «eine andere Republik» (Laschet) verfangen hat.
Bürgerliche Vorwürfe
Warum er ein Bündnis mit der Linkspartei nicht ausgeschlossen habe, fragte die Leiterin des ZDF-Wahlstudios den Sieger Scholz, und es klang wie der bürgerliche Vorwurf, der es war; wie vor Wochen die Moderatorin des ZDF-«Heute Journals» die Linke-Spitzenkandidatin Janine Wissler unausgesprochen für meschugge hielt, weil deren Partei auch beim Schlussakt in Afghanistan von ihrem strikten Antimilitarismus nicht lassen wollte.
Dass sich Grüne und FDP, ohne die es nicht gehen wird, zuerst verständigen sollten, schlug Lindner am Abend vor. Wie sich die Massnahmen einer «Klimaregierung» (Baerbock) und überhaupt die ganzen Erneuerungspläne finanzieren lassen, wenn die FDP Steuererhöhungen kategorisch ausschliesst, wollte zum Schluss der Berliner Runde Susanne Hennig-Wellsow wissen, die Vorsitzende der Linken, jener Partei, die von der FDP am weitesten entfernt ist. Und darum auch keine Rolle mehr spielt.
Stefan Gärtner war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). Für die WOZ blickt er üblicherweise in der Kolumne «Von oben herab» aus Deutschland auf die Schweiz.