Bulgarien: Vergessen an der Peripherie Europas

Nr. 37 –

In Harmanli ist das grösste Flüchtlingszentrum Bulgariens. Weit über tausend Menschen harren hier unter widrigsten Bedingungen aus. Ihre Hoffnung auf eine legale Weiterreise ist gering.

  • Ahmad Zaki ist zusammen mit seinem Onkel aus Afghanistan geflüchtet. Zuvor hat der 22-Jährige als Verkäufer in einem Kabuler Supermarkt gearbeitet. Er kann das ewige Warten nicht mehr ertragen. Einzig die neuen Freundschaften, die er in Harmanli geschlossen hat, bieten etwas Abwechslung.
  • Ihre Mutter, sagt sie, habe zur Schwester nach Bern ziehen wollen. Die 22-jährige Sisin Ali hätte lieber in der Türkei weiterstudiert. Dazwischen sind die Syrerinnen gestrandet: Vier Tage lang hatten sie sich ohne Essen und Trinken an der Grenze zu Serbien versteckt. Dann wurden sie erwischt und drei Wochen lang eingesperrt. Seit zehn Monaten sitzen sie in Harmanli fest.
  • «Wenn die Kinder sehen, wie Asma und ich unglücklich sind, werden auch sie ganz traurig», sagt Wlat Jmail. Erst beim sechsten Versuch hat die sechsköpfige Familie aus dem syrischen Kamischli den Grenz­übertritt nach Bulgarien geschafft. Seit sieben Monaten lebt sie in Harmanli.
  • Das Camp von Harmanli von aussen gesehen.
  • Abdul Sabor war Busfahrer am Flughafen von Kabul. Seine Frau und die vier Kinder sind alle in Berlin. Er möchte lieber nicht schlecht über die Zustände in Bulgarien reden, solange er hier festsitzt. Mut machen ihm die Gedanken an die Familie – und ein Likör namens Mustika, wie er lachend hinzufügt.
  • Vor der Flucht arbeitete Mohammad Hawa im syrischen Aleppo als Innenarchitekt. Seit einem halben Jahr leben er und seine Frau Mayada Kebbie mit ihren vier Kindern in Harmanli. Dass im Camp nichts für die Bildung und Unterhaltung der Kinder getan werde, stört die beiden am meisten. Vom Roten Kreuz gespendete Schuhe sind der Gegenstand ihrer erfreulichsten Erfahrung in Bulgarien.
  • Denkmal in Harmanli zur Erinnerung an den Einmarsch der Roten Armee im September 1944 und an die antifaschistischen bulgarischen PartisanInnen.
  • Für den 65-jährigen Antar Scheich Ahmad aus Kamischli war der Grenzübertritt nach Bulgarien besonders beschwerlich – und besonders teuer: 1700 Euro habe er dafür bezahlt. Aufgrund seines Alters habe seine Reisegruppe immer wieder Pausen einlegen müssen. Immerhin habe er im Zuge der Flucht wieder mit seinem Sohn Baschar zusammengefunden, der Syrien schon früher verlassen hatte.
  • Rokaia Abdulrazek und ihr Sohn Albara werden vom Vater des Jungen in Deutschland erwartet. Die 24-jährige Frau aus Kamischli darf Bulgarien trotzdem nicht verlassen. Sie hofft, dass endlich etwas geschieht.
  • Laut Fatima und Ibrahim Tabebi wurde ihnen von den ungarischen Behörden ein Handel angeboten: Wenn sie freiwillig nach Afghanistan zurückkehrten, würde Ibrahims Vater aus der Haft entlassen. Dort sei dieser gelandet, weil er ein Mädchen vor den aufdringlichen Zugriffen von ein paar Jungs beschützt habe. Die Hausfrau und der Elektroniker nehmen das «Angebot» an.
  • Einkaufsstrasse in Harmanli.
  • Der Zahnarzt Ahmad Fahim vermisst seine Verwandten in Afghanistan und seine Freundin in Deutschland. In bestem Englisch erzählt er, wie er neun Mal von der bulgarischen Grenzwache in die Türkei verbracht wurde, bis er es endlich hierher geschafft habe.
  • Tankstelle in Harmanli.
  • Hozan Abdulrama­n spielt gerne Fussball und schätzt es sehr, dass manchmal auch ein paar Bulgaren zum Kicken ins Camp kommen. Auf seinem rechten Unterarm trägt er ein Herztattoo mit einem S in der Mitte. Es steht für Solin, den Namen seiner ersten Liebe. Der Mediziner brauchte zwanzig Versuche, bis er die EU-Aussengrenze nach Bulgarien überwinden konnte.

Sie sitzen fest, manche seit über einem Jahr. Hier, in Bulgarien, dem ärmsten Land der EU, achtzig Kilometer nördlich der türkischen Grenze. Untergebracht in einer ehemaligen Militäranlage am Rand der Kleinstadt Harmanli. Letzten Herbst, als sich über 3000 Menschen im grössten Flüchtlingszentrum des Landes zusammendrängten, stand das Camp für einen kurzen Augenblick im Scheinwerferlicht der internationalen Medien: Rechtsnationale Gruppierungen hatten behauptet, vom Camp gehe eine Seuchengefahr aus, worauf die Behörden das Zentrum mit Stacheldraht von der Aussenwelt abriegelten. Die Eingeschlossenen protestierten.

Noch immer leben rund 1500 Geflüchtete in der Militäranlage, als wir im Juni 2017 in Harmanli eintreffen. Die Gestrandeten kommen zu etwa gleichen Teilen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. Wir wollen wissen, wie es diesen Menschen geht, ihnen ein Gesicht, eine Stimme geben.

Weshalb sitzen sie immer noch hier fest? Wer in Europa Zuflucht sucht, soll in jenem EU-Mitgliedstaat einen Asylantrag stellen, in dem er oder sie zum ersten Mal einen Fuss auf europäischen Boden setzt. So regelt es das Dublin-Abkommen. In der Praxis bürdet dies Staaten wie Bulgarien, die an der EU-Aussengrenze liegen, einen Grossteil der Verantwortung auf. Dafür werden sie von Brüssel finanziell unterstützt. Gelder, die eigentlich dafür gedacht sind, die Geflüchteten menschenwürdig unterzubringen, zu verpflegen und möglichst rasch durch das Asylverfahren zu führen. In Bulgarien scheinen die Behörden diese Gelder indes lieber in den Grenzschutz fliessen zu lassen. Das Land soll als Fluchtroute oder Fluchtdestination so unattraktiv wie möglich gemacht werden.

Viele der im Flüchtlingszentrum in Harmanli gestrandeten Menschen sind immer und immer wieder von den bulgarischen Behörden beim versuchten Grenzübertritt verhaftet und auf türkischen Boden zurückgeschafft worden, bevor es ihnen gelang, in Bulgarien einen Asylantrag zu stellen. Ein Grossteil von ihnen verfügt mittlerweile über eine sogenannte Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen. Doch mit diesem Status haben sie kaum Aussichten, in ein anderes europäisches Land weiterreisen zu können. Denn dazu bräuchten sie ein Visum von einem dieser Länder.

Unser Kontakt in Sofia, ein Mitarbeiter des bulgarischen Helsinki-Komitees, hat uns davon abgeraten, das Flüchtlingszentrum in Harmanli zu besuchen. Man würde uns zwar hineinlassen, hat der Menschenrechtsaktivist gemeint. Aber Geflüchtete, die im Camp beim Gespräch mit AusländerInnen gesehen würden, drohten von der Polizei zusammengeschlagen zu werden.

Wir versuchen es also ausserhalb. Die Geflüchteten dürfen das Zentrum zwischen 9 und 18 Uhr verlassen. Und tatsächlich: Jenseits des Camps können wir überraschend schnell Kontakt herstellen. Ein älterer Afghane bemüht sich umgehend um einen Übersetzer, als er uns in einem kleinen Café vis-à-vis des Campeingangs als AusländerInnen erkennt. Sein Freund Ahmad Fahim, den er zunächst übers Handy zuschaltet, gesellt sich bald zu uns ins Café. Fahim ist Zahnarzt. Sein gutes Englisch hat er sich in einer Praxis in Dubai erworben, wo er vier Jahre lang gearbeitet hat. Geduldig übersetzt er viele Stunden. Um mit der Welt ausserhalb der Tristesse Harmanlis in Kontakt zu treten, scheuen die Männer keinen Aufwand.

Bald schliesst sich mit Aschraf Hamdaui – seinen richtigen Namen behält er lieber für sich – auch ein junger Syrer der Gesprächsrunde an. Um seine Familie kennenzulernen, verabreden wir uns für den nächsten Tag mit ihm. Am vereinbarten Treffpunkt haben sich dann gegen fünfzig Personen versammelt. Es hat sich rasch herumgesprochen, dass wir uns für die Situation der Geflüchteten interessieren. Aus der Versammlung ergeben sich zahlreiche weitere Gespräche. Einige lassen sich auch von der Kamera porträtieren. Ihre schwersten, aber auch ihre erfreulichsten Fluchterfahrungen haben wir hier festgehalten.

Mitarbeit: Roman Enzler und Franziska Meister.

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