Von oben herab: Gesund und drunter

Nr. 40 –

Stefan Gärtner über deutsche Krankenkassen

In der Schweiz steigen schon wieder die Krankenkassenbeiträge, um durchschnittlich vier Prozent. Sie steigen jedes Jahr, weil alle immer älter werden und vorher «wegen jedes Bobos zum Spezialarzt rennen» (NZZ). Da die Löhne selbst in der Schweiz da nicht mithalten und Kinder und junge Erwachsene am dollsten draufzahlen müssen, fragt mich die Redaktion verzweifelt: «Wie macht ihr das überhaupt in Deutschland?»

Es gibt in Deutschland, weiss das Internet, 113 gesetzliche Krankenkassen und 44 private. Die Privatkasse funktioniert so, dass man da sehr viel einzahlt, dafür aber auch die Natelnummern sämtlicher medizinischer Kapazitäten bekommt, die man jederzeit wegen jedes Bobos anrufen kann. Im Krankenhaus hat man ein Einzelzimmer mit Klimaanlage und Minibar, und das Pflegepersonal hat auf Wunsch nichts drunter. Da die privaten Krankenkassen für die Beiträge ihrer Mitglieder auf den Finanzmärkten keine Zinsen mehr bekommen, sind die Prämien zuletzt rasant gestiegen, und wenn ich im Leben ausnahmsweise etwas richtig gemacht habe, dann dass ich nicht in die private Krankenversicherung bin. Als Freiberufler durfte ich mir das aussuchen, als Angestellter hätte ich locker das Doppelte verdienen müssen.

Lohnabhängige sind in einer der 113 gesetzlichen Krankenkassen. Dort ist es so, dass die Hälfte der Beiträge vom sog. Arbeitgeber kommt, die andere Hälfte von den Versicherten. Der Gesamtbeitrag beträgt zurzeit zwischen 14,9 und 16,4 Prozent des Lohns; dafür kriegt man einen Chefarzt nur zu sehen, wenn man ihn entführt, und muss auf einen Termin bei der Fachärztin mitunter sechs Wochen warten. Es gibt Praxen, die haben zwei Telefonnummern: Unter der für die Privatpatienten meldet sich sofort ein bekannter deutscher Synchronsprecher oder eine bekannte deutsche Synchronsprecherin, und die Stimme von Harrison Ford oder Scarlett Johansson vergibt einen Termin am nächsten Tag. Für die Normalos läuft, haben sie Glück, ein Band; haben sie Pech, hält eine kurz angebundene Sprechstundenhilfe die Information parat, neue Kassenpatienten nähmen sie nicht.

Die auf den ersten Blick idiotisch hohe Zahl Krankenkassen hat zwei Vorteile: Erstens haben dadurch sehr viele Menschen Arbeit, und zweitens wird Wettbewerb geschaffen. So übernimmt meine Krankenkasse neuerdings die 58 Euro für die jährliche Zahnreinigung, um im Wettbewerb gut dazustehen. Die Kosten für Zahnersatz übernimmt sie eher nicht, weil Implantate viel Geld kosten und Leute, denen die Zähne ausfallen, keine richtigen Marktteilnehmer sind und ein paar Zahnlücken medizinisch keine Beeinträchtigung darstellen. Man kann ärmere Menschen in Deutschland deshalb an ihrem Gebiss erkennen, was die Übersicht sehr erleichtert. Hier herrscht nun einmal Zweiklassenmedizin, wie es einer Klassengesellschaft aber auch angemessen ist.

In der «Titanic» gab es über einen Gesundheitsminister mal den schönen Witz, er habe alle Hände voll zu tun, die vielen Interessen auszugleichen, nämlich die von Apothekern, Chefärztinnen und der Pharmaindustrie. In der Schweiz ist das vermutlich anders, obwohl es mich tröstet, dass es auch hier echte Sorgen gibt: «Es ist eben etwas anderes, ob man für 3000 Franken einen neuen 65-Zoll-Fernseher kauft – oder denselben Betrag an die Krankenkassen abtreten muss» (NZZ). Zoll, nicht Zentimeter. Da habe ich glatt lachen müssen; und lachen ist ja bekanntlich gesund.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.