Von oben herab: Jubel, Tubel
Stefan Gärtner verfolgt die Nobelpreismeisterschaft
Dass den Nobelpreis für Physik mit Rainer Weiss ein «geborener Deutscher» erhalten habe, vergass kaum ein deutsches Medium zu erwähnen, als sei der Nobelpreis eine Sportveranstaltung mit Länderwertung und jemand, der 1938 aus Berlin emigrieren musste, damit wieder heimgeholt.
Kaum war die Nachricht vom Chemienobelpreis für Jacques Dubochet, den «Superstar vom Genfersee» (blick.ch), heraus, fiel auch der Netzabteilung des «Tages-Anzeigers» gleich die Frage ein, «wie die Schweiz vom Nobelpreis profitieren kann». «Nach wie vor top» sei der Forschungsstandort Schweiz, wusste der Chef des Wissensressorts vor der Kamera. Man könne auch in Zukunft mitreden, wenn es um die Vergabe des Nobelpreises gehe. Der schaffe Aufmerksamkeit dafür, «wie gut wir sind», und das locke Kräfte aus dem Ausland.
Die im Ausland dann vielleicht vermisst werden; aber so ist das mit dem Wettbewerb: Es können nicht alle gewinnen. Und fast ein wenig ironisch, dass sich der Schweizer Preisträger dem «Blick» gegenüber als «ganz à gauche» bezeichnen konnte: Alt-68er, SP-Mitglied, Arbeit im lokalen Gemeinderat in Sachen Umwelt und Integration, Engagement an einer Seniorenuniversität. Eine junge Flüchtlingsfrau wohnt bei ihm, er unterrichtet sie. Wäre sein Elternhaus etwas weniger bürgerlich gewesen, wäre der heutige Held als Legastheniker wohl auf der Sonderschule gelandet. «Die Kantonsschule besuchte er im ausserrhodischen Trogen, die für ihren liberalen Geist bekannt war. Später erfasste ihn der Geist der Achtundsechzigerbewegung. Er unterzog sich einer Psychotherapie, heiratete eine Künstlerin und verabschiedete sich definitiv von erstarrten gesellschaftlichen Konventionen», so der «Tages-Anzeiger», was sich dann laut NZZ heute so äussert, dass Dubochets Füsse «in schwarzen Socken und Trekkingsandalen» stecken und «seine Beine in weiten, dunkelblauen Cordhosen, wobei das eine Hosenbein hochgekrempelt ist, das andere nicht». Wer mit einer Wissenschaftlerin verheiratet ist, weiss, dass das so unkonventionell nicht ist, bloss dass nicht jeder Nerd als «Humanist und Altruist» gefeiert wird, «der nie in seinem Labor lebte, sondern als Politiker einen Beitrag für die Gesellschaft leisten wollte», wie die Waadtländer Regierungspräsidentin Nuria Gorrite, die den emeritierten Lausanner Professor aus der Kommunalpolitik kennt, wiederum dem «Tages-Anzeiger» steckte.
«Dubochet ist Philosoph, Naturwissenschaftler und Sozialist», hängte es der «Blick» noch es bitzeli höher, ein «unprätentiöser» obendrein, der gern wandert und «die ganze Zeit lacht»: «Ich möchte fröhlich sein und grosszügig. Wissen Sie, es ist nicht kompliziert, grosszügig zu sein.» Aber ganz unkompliziert eben auch nicht, wie ein Nutzer des «Tagis» bewies: «Muss man jetzt daraus schliessen, dass alle Platzierungen in Sonderschulen ein Fehler war und dass sich hinter jedem Kind in der Sonderschule ein Nobelpreisträger verbarg? Ich nehme an (und hoffe), dass Schulpsychologen sehr wohl unterscheiden können zwischen einer Dislexie, die sich ja nur in einem Fach äussert, und einer allgemeinen Lernschwäche. Bernhard Piller», dessen Lernschwäche selbst dann noch Bolschewismus wittert, wenn einer das, was ist, bloss ein wenig freundlicher machen will.
Vielleicht hole man den Nobelpreis doch lieber für die Wissenschaft (oder die Menschheit) als fürs Vaterland, das im Zweifel ja doch mehrheitlich aus Tubeln besteht.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.