Kaschmirkonflikt: Vertraute Feinde
Angesichts der neusten Eskalation in Kaschmir fürchtet man im Westen bereits einen Atomkrieg. Doch Indien und Pakistan verbindet mehr, als die hitzige Auseinandersetzung vermuten lässt.
Seit ihren Staatsgründungen vor bald sechzig Jahren streiten Indien und Pakistan um Kaschmir. Um das theoretisch souveräne, aber faktisch zweigeteilte Himalajagebiet hat es bereits drei Kriege gegeben – zuletzt 1999 in dem von Indien verwalteten Kargil-Distrikt, der in einem Patt endete. Rund tausend Soldaten kamen im Hochgebirgskampf ums Leben. Es war weltweit der bisher einzige konventionelle Krieg, bei dem sich zwei Atommächte direkt gegenüberstanden.
Wenn, wie in den vergangenen Wochen geschehen, die Spannungen zwischen Indien und Pakistan wieder einmal über das übliche Mass hinausgehen, kann das international deshalb schon zu Nervosität führen. Dann stellt sich erneut die Frage: Lassen sich die südasiatischen Streithähne irgendwann dazu verleiten, von ihrem üppig bestückten Nuklearwaffenarsenal Gebrauch zu machen?
Westliche Vorurteile
Nach dem Angriff auf ein indisches Armeelager in der kaschmirischen Ortschaft Uri Mitte September, bei dem neunzehn Soldaten ums Leben kamen und einige verletzt wurden, war die Situation eskaliert. Indien macht für diese Attacke – die grösste auf seine Armee seit dem Waffenstillstandsabkommen von 2003 – die in Pakistan ansässige Terrororganisation Jaisch-e-Mohammed verantwortlich. Und den pakistanischen Geheimdienst, der die Militanten über die Waffenstillstandslinie geschleust haben soll. Im Gegenzug drang eine Gruppe indischer Soldaten in pakistanisches Gebiet ein und beschoss dort angeblich von Terroristen genutzte Einrichtungen. Wenige Tage später folgte ein erneuter Anschlag auf indische Sicherheitskräfte, diesmal auf Paramilitärs.
«Die Situation ist gefährlich, eine weitere Eskalation ist möglich», sagt die indische Konfliktforscherin Sudha Ramachandran. «Aber deswegen steht noch lange kein nuklearer Krieg vor der Tür.» Es sei ein westliches Vorurteil, dass Atomwaffen in Südasien in weniger sicheren Händen seien als anderswo. «Natürlich kann ein solcher Konflikt aufgrund einer Panne ausser Kontrolle geraten – wie das auch in einem der vielen Stellvertreterkriege hätte passieren können, an denen westliche Mächte beteiligt waren», so Ramachandran. «Doch nichts deutet darauf hin, dass wir uns weniger rational verhalten.»
Mit dem «wir» meint die indische Expertin nicht nur ihre eigene Regierung und militärische Führung, sondern auch die pakistanische. Ein solches «wir» gibt es auch bei den politischen Eliten und der breiten Bevölkerung in beiden Ländern. Denn der grosse Konflikt Südasiens hat die beiden Nachfolgestaaten von Britisch-Indien von jeher nicht nur auseinandergetrieben – er dient beiden Staaten auch dazu, die jeweilige «Nation» zu definieren. Dadurch ist das Management des Kaschmirkonflikts auch zum gemeinsamen Projekt geworden, bei dem man sich ungern von aussen reinreden lässt.
Diplomatisches Duell
Und während nun beide Regierungen die andere Nation fürs eigene Publikum wortgewaltig verteufeln, tun sie im Hintergrund alles, um die Sache militärisch im Zaum zu halten. Derweil der indische Regierungschef Narendra Modi seinen kleinen militärischen Vergeltungsschlag grossredet, um die hindunationalistische Wählerschaft zu bedienen, tut sein pakistanischer Kollege Nawaz Scharif das Gegenteil – um nicht unter Druck zu kommen, den Vergeltungsschlag zu vergelten. Indien hat es indes geschafft, Pakistan auf diplomatischer Ebene empfindlich zu treffen. So musste der für Mitte November in Islamabad geplante Gipfel der Südasiatischen Wirtschaftsgemeinschaft abgesagt werden, weil die meisten Mitgliedstaaten dem indischen Boykottaufruf gefolgt waren. Auch die USA sind zum Alliierten Pakistan – der für sie im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet den Terror bekämpfen soll – auf Distanz gegangen.
Denn dass Pakistan auch Terrororganisationen unterstützt, um eigene politische Ziele zu erreichen, ist so offensichtlich, dass selbst der pakistanische Ministerpräsident dies mittlerweile nicht mehr explizit abstreitet: Letzte Woche forderte Scharif seine Armee- und Geheimdienstchefs auf, endlich auch die in Kaschmir tätigen Terrorgruppen zu bekämpfen, weil sich das Land sonst international zu sehr isoliere.
Blind durch Gummischrot
Derweil steht Indien wieder einmal als «good guy» da. Dies, obwohl dessen stetig repressiver werdende Politik im indischen Teil Kaschmirs ein Hauptgrund dafür ist, dass sich dort wieder separatistische Tendenzen manifestieren. Seit indische Sicherheitskräfte im Juli den in Kaschmir höchst populären Rebellenführer Burhan Wani töteten, sind Zehntausende Kaschmiri auf die Strassen gegangen. Die indische Staatsgewalt reagiert immer wieder äusserst brutal: Schon über hundert Protestierende sind erblindet, weil sie mit Gummischrot beschossen wurden. Dabei handelt es sich anders als in der Schweiz um zahlreiche sehr kleine Kugeln, die Haut oder Augäpfel durchschlagen. Über achtzig ZivilistInnen sind bis heute getötet worden, mehrere Tausend wurden verletzt, über 8000 verhaftet.
Die Protestierenden kämpfen für mehr Autonomie. Eine Mehrheit der Bevölkerung will einen «freien Kaschmir» – unabhängig von Indien wie auch von Pakistan. Dass das nicht passieren soll, darin sind sich die beiden verfeindeten Grossmächte wieder einmal einig.