Martin Stricker (1967–2017): Der Grossmeister im Verknüpfen von Klängen, Menschen und Szenen

Nr. 43 –

Metal-Legende, Musiker, Partymogul und Unternehmer – letzte Woche verstarb der Zürcher Martin Stricker alias Martin Eric Ain überraschend erst fünfzigjährig. Der Nachruf eines Freundes.

Als seine Sammlung noch überschaubar war: Martin Stricker, 1988, in seiner Wohnung an der Zürcher Manessestrasse. Foto: Urs Siegenthaler

Ich lernte Martin zweimal kennen. An das erste Mal erinnere ich mich nicht genau. Es könnte in Rapperswil gewesen sein, im Frühjahr 1984. Drei Jahre zuvor war H. R. Giger mit dem Oscar ausgezeichnet worden für die Spezialeffekte in «Alien». Nun fand die erste grosse Ausstellung seiner Werke und Filmrequisiten im Seedamm-Shopping-Center statt, in einem betont düster gehaltenen Nebenraum des Einkaufstempels.

Da standen wir also und bestaunten etwas verschämt Gigers Welt, in der christliche Symbolik, primäre und sekundäre Geschlechtsteile und ölige Hybridwesen ineinander übergehen. Oder das Plattencover von Debbie Harrys Debütalbum «KooKoo», auf dem der Kopf der Sängerin von langen Nadeln durchstossen zu sehen ist.

Okkultismus, Satanismus, Kunst

Wenige Monate zuvor war Martin Bassist bei Hellhammer geworden. Doch bereits hatten Thomas «Tom Warrior» Fischer und er beschlossen, die Band sterben und eine neue entstehen zu lassen. Hellhammer hatte sich beinahe bis zur Parodie an Musik und Image der britischen Band Venom abgearbeitet, der Begründerin des Black Metal. Das alles gehörte zusammen: Musik, Filme, Okkultismus, Satanismus, Kunst – und bald wurde klar, dass sich keiner so gut im Verknüpfen der verschiedenen Medien verstand wie Martin. Er sprengte damit kurzerhand das apologetische Konzept von Hellhammer, deren Demokassetten auf beträchtliche internationale Resonanz gestossen waren. Gemeinsam entwickelten Tom und er die Vision einer neuen Band. Die beiden wurden zu einem Zweikomponentenkleber. Tom konnte seine unergründliche Wut in zersetzende Musik verwandeln, Martin wusste das Gitarrengewitter in Bilder und Symbole zu übertragen. Adoleszente Allmachtsfantasien liessen sie detaillierte Veröffentlichungspläne schmieden, bevor sie überhaupt etwas aufgenommen hatten. Von Anfang an stand etwa der Titel des ersten Albums fest: «To Mega Therion» («Das Grosse Tier», nach dem Titel der Autobiografie des Okkultisten Aleister Crowley). Ein besonders provokantes Giger-Bild müsste aufs Frontcover.

Etwas über ein Jahr später waren die gesteckten Ziele in einem atemberaubenden Tempo erreicht, mehrere Platten der neuen Band mit dem Namen Celtic Frost waren erschienen, darunter auch besagte LP mit dem Giger-Umschlag. Der erste Auftritt der Band hatte im Leutschenbach stattgefunden, in einer Musiksendung des Schweizer Fernsehens, Playback. Live betraten sie wenige Tage danach in der Grabenhalle St. Gallen zum ersten Mal die Bühne. Ich hatte das Konzert organisiert, trotz schwerer Bedenken der örtlichen linksalternativen Szene, die damals argwöhnisch über die richtige Verwendung der ehemaligen Turnhalle wachte.

Darüber, was danach passierte, wird in diesen Tagen viel geschrieben. Dass die Band vonseiten des etablierten Kulturbetriebs noch immer nicht die Anerkennung gefunden hat, die ihr eigentlich zusteht, hat im letzten Jahr zu einer kurzen, gehässigen Kontroverse geführt. Doch es ist so: Keine hiesige Musikgruppe war je einflussreicher als Celtic Frost. Das lässt sich leicht erkennen, man braucht bloss den Blick über die engen Grenzen zu heben. Andere mögen mehr Tonträger verkauft haben oder stromlinienförmigere Musik gemacht haben, doch keine andere Band aus der Schweiz fand international eine solche Resonanz. Unüberschaubar gross ist zum Beispiel die Zahl der von Bands weltweit aufgenommenen Coverversionen von Celtic Frost und Hellhammer.

Angesagt, doch nicht Mainstream

Das zweite Mal lernte ich Martin 2002 kennen. Unsere Wege hatten sich 1985 schon wieder getrennt. Mittlerweile hatten sich Celtic Frost im Streit aufgelöst. Martin hatte seinen Namen und seine internationalen Verbindungen genutzt, um sich – vorübergehend – aus der rigiden Metalszene zu lösen.

In den neunziger Jahren wurde er zum Partymogul und Unternehmer und ich zu einem linksradikalen Kleingeist. Nie hätte ich einen Fuss ins «Atelier Milvus» gesetzt, seinen ersten, irgendwie stets halb legalen Club, der dem alternativen Zürich zwei Jahre lang die letzten Reste der Achtziger aus dem Gehörgang pumpte. Ein zermürbender Kleinkrieg mit den Behörden führte 1993 zur Clubschliessung. 1994 folgte das «Luv» im Seefeld, und auch hier war Martin der prägende Kopf, kannte keine Berührungsängste, programmierte mit sicherer Hand Konzerte. Grunge, Hip-Hop oder Hardcore, was immer gerade angesagt und doch nicht Mainstream war. Die Liberalisierung des Gastgewerbegesetzes beendete 1998 den Höhenflug. Der Chic des Halblegalen verpuffte, man bekam über Nacht jede Menge Konkurrenz. Der Schritt in die endgültige Professionalisierung folgte. «Acapulco», «Cinque», «Mascotte», «Mata Hari», «Alte Metzg» – die sehr männlich zusammengesetzte Betreibergruppe war nun eine mitbestimmende Grösse im Zürcher Nachtleben. So wie Martin früher die Bild- und Klangwelten zusammengeführt hatte, verknüpfte er später die verschiedensten Menschen und Szenen miteinander.

So also trafen wir uns zufällig wieder, in einem DVD-Fachgeschäft, an dessen Aufbau er ebenfalls beteiligt gewesen war. Zögerlich kamen wir ins Gespräch. Stunden später, der gemeinsam gespeiste Redefluss war nie abgerissen, landeten wir spätabends irgendwie in Wipkingen. Ich müsse seine Sammlung sehen. Der Weg führte eine Treppe hinab, denn seine Wohnung lag unterirdisch. «Weisst du, wer hier reinkommt, sieht sofort, wer ich bin», meinte er beim Aufschliessen der Tür. Und in der Tat: Martin hatte sein Leben in eine Objektwelt verwandelt. Der riesige Raum, vielleicht vier Meter hoch, quoll über von Unmengen an Toys, Büchern, Platten, DVDs, zeitgenössischer Kunst in jeder Grösse und Form. Man hätte ganze Ladensortimente damit bestücken können. Alleine die Comicsammlung war monumental in ihrer Dimension. Und zu jedem einzelnen Objekt konnte er ohne Punkt und Komma einen Vortrag halten.

Ich ging erst im Morgengrauen nach Hause, in meinem Rucksack zwei Dutzend Pornofilme, die ich mir erst mal in Ruhe anschauen solle. Genreklassiker, Filme, die man gesehen haben müsse, bevor man sich Urteile erlauben könne, wie ich das gerade getan hatte. Er war zu einem Gelehrten der Popkultur geworden.

Nie kommt der Tod gelegen

Es gibt wohl kein Thema, das wir nicht gemeinsam nächtelang seziert, nichts, worüber wir uns nicht gestritten hätten. Wir lernten, welche Themen wir besser bleiben lassen. Politische etwa. Auch konnte er mir sehr fremd sein, wenn er mit einer unglaublichen Inbrunst seine Karaoke-from-Hell-Show abzog. Genauso wenig habe ich verstanden, warum er die Finger nicht lassen konnte von dem, was ihn krank machte. Auch die Celtic-Frost-Reunion von 2006 schien mir ein Fehler zu sein. Er sah das anders.

In den wichtigen Dingen aber näherten wir uns einander an. Ich begleitete ihn auf Comicmessen, in Clubs, er folgte mir in die eine oder andere Univorlesung und beschenkte mich in seiner überaus grosszügigen Art, als ich mein Studium abschloss.

Da waren wir nun beide mittelalt geworden, und ich dachte eigentlich, es würde noch lange so weitergehen. Doch am vergangenen Samstag hat ihn ein Herzinfarkt im lächerlichen Alter von fünfzig Jahren aus dem Leben gerissen. Nie kommt der Tod gelegen, aber hier hat er sich definitiv in der Zeit geirrt. Wie kann man einen Planeten, wie Martin einer war, beschreiben? Es geht nicht.