Ein Dorf in Kärnten: Blaue, heile Welt
Deutsch-Griffen hat vier Gasthäuser, eine Kegelbahn und null Flüchtlinge. Über die Hälfte der 911 EinwohnerInnen haben die sehr rechte FPÖ gewählt – mehr als sonst irgendwo in Österreich. Warum?
Michael Reiner lächelt zufrieden. Er streichelt dem Lämmchen über den Kopf und winkt ein paar Müttern und Vätern zu, die mit ihren Kindern vor dem Hasengehege stehen. Das mit dem Streichelzoo war seine Idee. Auch eine Hüpfburg hat er aufstellen lassen. Damit die Eltern in Ruhe den Bauernmarkt besuchen können und es den Kindern nicht langweilig wird. Hier in Deutsch-Griffen, einer kleinen Gemeinde im Kärntner Gurktal, wurde Reiner mit absoluter Mehrheit zum Bürgermeister gewählt.
Bei der Nationalratswahl haben 53,8 Prozent bei seiner Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) das Kreuz gemacht. Landesweit gibt es keine andere Gemeinde, bei der die FPÖ prozentual besser abgeschnitten hat. Das ist in vielerlei Hinsicht verwunderlich. Denn die klassischen FPÖ-Themen, Migration und Asyl, betreffen hier niemanden. Die einzige Ausländerin ist eine Kanadierin, die vor Jahren hierhergezogen ist, weil sie sich in den Kärntner Erik verliebt hat. Sie steht am Bauernmarkt nicht weit vom Bürgermeister, nippt an einem Rotwein und sagt: «Das hier sind die herzlichsten Menschen, die ich je getroffen habe.» Warum also wählen trotzdem so viele in Deutsch-Griffen eine ausländerfeindliche Partei?
Eine Zäsur in Europa
Das Wort, das nach der Nationalratswahl in Österreich am 15. Oktober die internationalen Schlagzeilen dominiert hat, ist: Rechtsruck. Zwei Parteien deutlich rechts der Mitte, die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP), die mit Sebastian Kurz den nächsten Kanzler stellt, und die rechtspopulistische FPÖ, die knapp hinter der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) auf Platz drei landete, erhielten zusammen fast sechzig Prozent der Stimmen. Das ist ein historischer Sieg. Noch nie kamen Schwarz und Blau zusammen auf ein höheres Ergebnis.
Dass die FPÖ, die das zweitstärkste Ergebnis ihrer Parteigeschichte einfuhr, nicht noch besser abschnitt, liegt an Sebastian Kurz, der mit seiner ehemals schwarzen und jetzt türkisen «neuen Volkspartei» auf Platz eins landete. Kurz stürzte sich auf Kernthemen der FPÖ und fuhr einen scharfen Antiflüchtlingswahlkampf. Vom Burkaverbot über die Warnung vor dem politischen Islam bis zur Kürzung der Mindestsicherung von anerkannten Flüchtlingen war alles dabei. Mit solchen «Österreich zuerst!»-Slogans hatte die FPÖ bisher erfolgreich WählerInnen mobilisiert. «Kurz hat uns die Wahlkampfthemen geklaut», beschwerte sich FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache hinterher.
Beide, Kurz und Strache, stellen in Europa eine Zäsur dar. Kurz wird mit 31 Jahren der jüngste Regierungschef Europas. Strache wird der erste Politiker sein, der trotz seiner Vergangenheit in der Neonaziszene mitregieren darf. Anderswo hätte das wohl das Ende einer politischen Karriere bedeutet. In Österreich scheint man sich an derartige Skandale gewöhnt zu haben. Um breitere Bevölkerungsgruppen anzusprechen und an die Macht zu kommen, hat die FPÖ das rechtsradikale Image abgestreift. Das hatte zur Folge, dass sie trotz antisemitischer Ausrutscher und fremdenfeindlicher Parolen in der Mitte des politischen Systems angelangt ist. Während die AfD in Deutschland ein vergleichsweise neues Phänomen darstellt, gehört die FPÖ in Österreich schon seit 1956 zur Parteienlandschaft.
Bereits zwei Jahre später stellte die FPÖ in Deutsch-Griffen den ersten Bürgermeister. Damit begann eine Tradition, die sich bis heute hält. Entstanden ist die FPÖ aus dem Verband der Unabhängigen, einem Sammelbecken für ehemalige NSDAP-Mitglieder. Später brach die FPÖ mit deutschnationalen und antiklerikalen Traditionen, so Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien: «Unter Heinz-Christian Strache wird die Partei zum Verfechter des Christentums und findet im Islam ein neues Feindbild.»
Ende der achtziger Jahre nutzte bereits Jörg Haider, unter dem die FPÖ 1999 mit 26,9 Prozent ihr Rekordhoch erreichte, die Flucht- und Migrationsbewegung aus Osteuropa und Jugoslawien für sich. Haider, der in Kärnten neun Jahre in Folge den Landeshauptmann stellte, wetterte gegen zweisprachige Ortstafeln in Gebieten mit einer slowenischen Minderheit. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2008 machte er mit Slogans wie «Kärnten wird tschetschenenfrei» Politik.
Als Haider bei einem Autounfall verunglückte, fiel das «freiheitliche» Kärnten in eine Art Schockstarre. Sein Nachfolger, Gerhard Dörfler, leitete die Trauerrede bei Haiders Begräbnis mit dem Satz ein: «Heute ist in Kärnten die Sonne vom Himmel gefallen.» Dörfler konnte sich bis 2013 halten, dann erlitt die FPÖ in Kärnten eine schwere Niederlage. Sie stürzte ab, verlor die Hälfte ihrer Stimmen, musste den Landeshauptmann an die SozialdemokratInnen abgeben. Dörfler war Österreichs letzter blauer Landeshauptmann. Er hatte in Deutsch-Griffen die Schule besucht.
Erinnerungen im «Moserwirt»
Über Dörfler, der bis zuletzt im österreichischen Bundesrat sass, redet im Dorf heute niemand mehr. Über Haider, der seit zehn Jahren tot ist, schon. Im «Moserwirt», einem der vier Gasthäuser des Dorfes, erzählt man zwischen Zigarettenschwaden und Bierkrügen, wie volksnah Haider gewesen sei und dass viele seinetwegen noch immer die FPÖ wählten. Es gibt die Legende, dass Haider jedem Kärntner dreimal die Hand geschüttelt habe. Bürgermeister Michael Reiner kann sich an jeden Händedruck erinnern, als sei es gestern gewesen. Er denkt kurz nach und zählt: «Bei einer Strasseneinweihung, nach einem Marathon am Wörthersee, beim Flanieren in einer nahe gelegenen Stadt.» Inhaltlich und rhetorisch hat Reiner mit dem Hardliner Haider wenig gemeinsam. Aber auch er hat verstanden, wie man Menschen, die sonst wenig mit Politik zu tun haben, für die «Freiheitlichen» begeistern kann. Nicht mit Wahlplakaten, Postwurfsendungen oder wutentbrannten Reden, sondern mit Bürgernähe und Geselligkeit.
Reiner erreichte in Deutsch-Griffen, wie schon sein Vorgänger, die absolute Mehrheit. In seinem Fall auch, weil er Obmann der Landjugend war, weil er abends bei der Kegelbahn einkehrt, weil er kein abgehobener Politiker ist. Er geht auf die Jungen zu, fragt, ob sie sich engagieren wollen, bietet ihnen Listenplätze an, auch wenn sie noch wenig Erfahrung haben. Auch bundesweit setzt die FPÖ auf junge NachwuchspolitikerInnen. Dass nach der letzten Nationalratswahl in Österreich mehr Burschenschafter denn je im Parlament sitzen werden, stört in Deutsch-Griffen niemanden. 20 der 51 Nationalratsabgeordneten der FPÖ sind nach Angaben des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands «völkisch korporiert». Mit denen will Bürgermeister Reiner nichts zu tun haben. «Die FPÖ-Wahlwerbung aus Wien funktioniert bei uns nicht», sagt er. Wie auch? In die Ortsschule gehen nur österreichische Kinder. Es gibt niemanden, der den Deutsch-GriffnerInnen die Wohnung wegnimmt. «Ganz im Gegenteil», sagt Bürgermeister Reiner lachend, «wir hätten sehr gerne, dass sich jemand bei uns niederlässt.» Auch Syrer und Afghaninnen? Das habe nie zur Debatte gestanden, auch aufgrund der abgelegenen Lage. Darüber scheinen hier alle ganz froh zu sein.
Der letzte Rote will nicht mehr
Auch wenn Deutsch-Griffen nie einen Flüchtling aufnehmen musste: «Das Ausländerthema war führend, wie ein Phantomschmerz, den man spürt, obwohl es nirgends wehtut.» Das sagt Walfried Prodinger, der einzige rote Gemeinderat. Auf einem Hügel über dem Dorf liegt sein Hof, den er vom Vater übernommen hat. Hier endet die asphaltierte Strasse, höher hinauf geht es dann nur noch zu Fuss. Prodinger sagt, dass seine Karriere als Gemeindepolitiker jetzt zu Ende sei. Nur noch 85 Menschen und damit 16,4 Prozent haben bei der Nationalratswahl seine Partei gewählt, der Grossteil davon aus seinem direkten Umfeld: dem roten Pensionistenverband. Im Vergleich zur Bundesebene, wo die SPÖ mit 26,9 Prozent den zweiten Platz belegt hat, ist das für einen Altfunktionär wie Prodinger, der seit 45 Jahren bei der Partei ist, ein bitteres Ergebnis.
In den siebziger Jahren, als die SozialdemokratInnen unter Bundeskanzler Bruno Kreisky die absolute Mehrheit stellten, sei das «Klinkenputzen», die persönlichen Hausbesuche, noch eine schöne Sache gewesen, erzählt er. Heute «rennt» er immer noch, um Wahlkampf zu machen, aber nicht mehr so schnell wie damals. Wenn ihn die Leute in die Häuser liessen, dann wollten sie mit ihm nicht über eine Vermögenssteuer sprechen, sondern darüber, dass das Sozialsystem durch die Zuwanderung bedroht sei. Wenn er über die Hypo spreche, höre keiner richtig hin.
Die Causa Hypo gilt in Österreich als grösster Bankenskandal der Zweiten Republik. Die Verantwortung für das Debakel trägt die FPÖ, die unter Jörg Haider Milliardenhaftungen des Landes für die Bank einging und Kärnten an den Rand der Pleite führte. Abgestraft haben die WählerInnen die Partei nicht. Ganz im Gegenteil: Mit 31,7 Prozent landet die FPÖ erstmals wieder auf Platz eins in Kärnten. Wenn das bei der Landtagswahl im März 2018 so bleibt, könnte die FPÖ ihre blaue Hochburg zurückbekommen. Jetzt will Prodinger, der letzte rote Gemeinderat, nicht mehr.
Die FPÖ fischt der SPÖ mit einem Jungfamilienbonus und Baukostenzuschuss die StammwählerInnen weg, vor allem ArbeiterInnen und Angestellte. Wenn Prodinger im «Moserwirt» auf ein Bier einkehrt, dann reichen ihm die Stammgäste ein blaues FPÖ-Feuerzeug, damit er seine Zigarette anzünden kann. Darauf steht: «Die soziale Heimatpartei». Und Prodinger weiss, dass seine ursprüngliche Klientel die Seiten gewechselt hat.
Im Stich gelassen
So wie Yvonne Glanzer, 26 Jahre alt, die mit ihrem Mann und den zwei- und vierjährigen Töchtern mitten im Dorfzentrum lebt. Sie will einmal die kleine Gastwirtschaft mit Kegelbahn und Jukebox ihrer Mutter übernehmen. Die Jungen, die hier einkehren, wählen mehrheitlich FPÖ. Warum, können die wenigsten von ihnen erklären. «Weil der Bürgermeister gute Arbeit leistet» oder «weil dieses Land Veränderung braucht», sind die am häufigsten angeführten Gründe.
Glanzer hingegen fühlt sich im Stich gelassen. Vor den Schwangerschaften hat sie als Malerin gearbeitet. Nach der zweiten Karenz hat sie sich arbeitslos gemeldet, um dann zu erfahren, dass sie lediglich 41 Euro Notstand und 400 Euro Kinderbeihilfe bekomme, weil ihr Mann Vollzeit arbeite. Die Jungfamilie muss mit etwa 1900 Euro auskommen und nebenher den Kredit für die Renovierung des Hauses abbezahlen. «Ansparen können wir nichts», sagt sie. Sie und ihr Mann haben das Gefühl, dass es für sie und ihre Kinder nicht mehr aufwärtsgeht.
WählerInnen wie Yvonne Glanzer sind nicht rechtsradikal, sie sind verunsichert: durch die Wirtschaftskrise, die Globalisierung und die Zuwanderung. Sie sehen sich als VerliererInnen: der EU-Erweiterung, der voranschreitenden Digitalisierung, der internationalen Freihandelsabkommen. Das alles ist so komplex, dass man sich nur noch in seinen Mikrokosmos zurückziehen will, wo die Welt noch in Ordnung scheint.
Und so steht Glanzer auch für die Wende im österreichischen Wahlverhalten. Schon heute macht die Mehrheit der ArbeiterInnen ihr Kreuz nicht mehr bei den SozialdemokratInnen, sondern bei den «Freiheitlichen». FPÖ-Bundesobmann Heinz-Christian Strache, der derzeit mit Sebastian Kurz Koalitionsgespräche führt, setzte Mitte der nuller Jahre das fort, was Haider begonnen hatte. Er gibt sich als Verfechter des «kleinen Mannes» und buhlt in sozialdemokratischen Milieus um ArbeiterInnen und Angestellte.
Viele Menschen in Deutsch-Griffen beschleicht das Gefühl, dass die Politik ihnen verordnen wolle, wie sie zu leben hätten. Die Wirte klagen über die mühsame Bürokratie, die Bäuerinnen über undurchsichtige EU-Fördersysteme, der Stammgast im Wirtshaus über den «Gender-Wahn». Man will so weitermachen wie zuvor. Man hat Angst, mit der Nachbargemeinde zusammengelegt zu werden. Man fürchtet, dass man zu VerliererInnen der Zentralisierung wird und dass jene, die weiter hinten im Tal leben, auf der Strecke bleiben.
Zuwanderung? Das Gegenteil ist das Problem
Diese Angst erkennt niemand besser als Michael Reiner und seine FPÖ. Während ParteikollegInnen in Wien vor der Zuwanderung warnen, vor einem Österreich, das aus allen Nähten platze, ist sein zentrales Thema das Gegenteil: Landflucht. In Deutsch-Griffen wird die Bevölkerung immer älter. 2001 lebten 1023 Menschen in der Gemeinde, heute sind es nur noch 911. Das Problem in Deutsch-Griffen ist nicht, dass die AusländerInnen den ÖsterreicherInnen den Job wegnehmen, sondern dass sich keine Unternehmen ansiedeln wollen: weil die Transportwege lang und teuer sind.
Die BeamtInnen im Gemeindeamt sind neben den Bankangestellten und den MitarbeiterInnen beim Nahversorger «Nah und Frisch» die wenigen im Dorf, die nicht jeden Tag zur Arbeit pendeln müssen. Frühmorgens, wenn es noch dunkel ist, stehen die Deutsch-GriffnerInnen auf, steigen in ihr Auto und nehmen die kurvige Strasse hinunter ins Tal. 300 Höhenmeter, 22 Kilometer und oft sogar noch weiter. Am Abend kehren sie zurück in ihr kleines, beschauliches Dorf, umgeben von Wäldern, eingebettet in einen Seitenarm des Gurktals. Hier, wo das Autoradio rauscht, weil der Empfang schlecht ist, und wo es taleinwärts nicht viel mehr gibt als Bauernhöfe und Almen. Hier, wo die Grünen als einzige Partei mit zwei Plakaten geworben haben und auch genauso viele Stimmen dafür bekommen haben. Slogans wie «Sei ein Mann, wähle eine Frau!» versteht hier niemand. Die sexistischen Sprüche im Wirtshaus will man sich nicht nehmen lassen.
Babybilder am Bauernmarkt
Trotzdem bleiben viele Junge hier, bauen ein Haus, bekommen Kinder. Sie nehmen es in Kauf, dass es in ihrer Nähe weder einen Supermarkt noch ein Kino noch eine Disco gibt. Warum tun sie sich das an?
«Weil ich in der Grossstadt Heimweh bekomme», sagt Verena Brandstätter, 22. Sie spielt Querflöte in der Musikkapelle und ist Mädchenleiterin der Landjugend. Heute hat die Landjugend an der Bushaltestelle im Ortszentrum einen Stand aufgebaut. Die Strasse ist gesperrt, denn Deutsch-Griffen veranstaltet den alljährlichen Bauernmarkt. Eben noch ist Brandstätter mit der Blasmusikkapelle aufmarschiert, mit Hut, grauem Trachtenjanker und blauen Stutzen, vorneweg der Stabführer, der den Takt angibt. Jetzt schenkt sie himbeerrote und apfelgrüne Schnäpse aus. Verena studiert Pflegemanagement an einer Fachhochschule. Sie hat die FPÖ gewählt, weil der Bürgermeister ihre Interessen am besten vertrete. Der steht jetzt neben ihr an der Bushaltestelle und zeigt der Landjugend Fotos von seinem kleinen Sohn, der vor ein paar Tagen auf die Welt gekommen ist.
Und dann gibt es auch noch die Volkspartei, die nationale Wahlgewinnerin. Werner Mattersdorfer, der ÖVP-Spitzenkandidat in der Gemeinde, Vizebürgermeister und Förster, ist einer, der sich schwertut, den Draht zu den Jungen zu finden. Von seinem Hof, der auf 1150 Höhenmetern liegt, kann man gerade noch die Spitze der Dorfkirche erkennen.