Editorial: Die Gnade der Geburt
Noch nie waren die Bildungspfade so durchlässig. Es gibt die Direttissima von der Volksschule via Gymnasium zur Universität. Quereinstiege via Lehre, Berufsmatura zur Fachhochschule bis zum Quergang zur Universität sind möglich. Wer will, kann die Matura via Passerelle nach der Berufsmatura ablegen – oder später auf dem zweiten Bildungsweg nachholen.
WOZ-Redaktorin Bettina Dyttrich wählte nochmals einen anderen Weg. Sie stieg für ein Jahr aus der Kantonsschule aus und büffelte den Stoff zu Hause, ehe sie wieder an die Kantonsschule wechselte, die Matura ablegte, schliesslich als Korrektorin arbeitete, dann in den Journalismus einstieg und seither die Arbeit auf der Wochenzeitung als nicht endendes Studium begreift («Die WOZ als Universität» ).
Verfügt die Schweiz also tatsächlich über eines der besten und durchlässigsten Bildungssysteme? Es kommt auf die Gnade der Geburt an. Für Sprösslinge aus Mittel- und Oberschichtfamilien trifft es zu. 85 von 100 legen die Matura ab. Arbeiterkinder haben es so schwer wie vor einem halben Jahrhundert. Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm sagt: Die Herkunft zensiert («Zu viele von den Falschen schaffen es an die Universität» ).
Und doch schaffen es manche ganz nach oben. Erich Keller weiss aus eigener Erfahrung, wie einem Arbeiterkind Prügel zwischen die Beine geworfen werden. Der Historiker, Journalist und Buchautor erzählt in seinem eindrücklichen Essay, wie er zum Bildungsüberläufer wurde («Die Geschichte eines Arbeiterkinds» ). Sieht man von seinen Jugendjahren ab, beschritt Simon Kness einen Weg ausserhalb aller Bildungseinrichtungen: Er wurde Kunstmaler und Zeichner. Auf seinem entbehrungsreichen autodidaktischen Weg würden wohl die meisten scheitern («Der einzig mögliche Weg» ).
Andere Kinder, die in der Schule unter die Räder kommen, haben im Pech mehr Glück, nämlich finanziell und bildungsmässig gut gestellte Eltern: Sie unterrichten ihre Kinder zu Hause. Da ist etwa das autistische Kind, das ohne Homeschooling wahrscheinlich in einer psychiatrischen Einrichtung gelandet wäre. Mittlerweile betreibt der Fünfzehnjährige mit Gleichgesinnten ein Servernetzwerk und programmiert Computerspiele («Lernen ohne Schule» ).
Openki ist eine von politischen AktivistInnen programmierte Plattform, die Bildungs- und Ausbildungswillige zusammenbringt und antikapitalistisches Lernen ermöglicht («Antikapitalistisches Lernen 2.0» ).
Wie sich das zweifelhafte Vergnügen anfühlt, auf einem der bevorzugten oder schlechten Plätze in den Bildungswettlauf zu starten, vermittelt das von WOZ-Grafiker Marcel Bamert gestaltete Leiterspiel.