Bildungsüberläufer: Die Geschichte eines Arbeiterkinds

Nr. 46 –

Für Erich Keller war ein Leben als Kabelmaschinenoperateur vorgesehen. Der promovierte Historiker, Journalist und Buchautor schildert in seinem Essay, wie er zum Aufsteiger wurde.

Erich Keller.

Meine Schulzeit ist alles andere als erfreulich verlaufen. Ich gehörte zu den «BildungsverliererInnen» – man weiss kaum etwas über sie. Das Bildungssystem ist nicht nach Kriterien der sozialen Chancengleichheit gestaltet. Auch wenn Bildungsziele allgemein verbindlich gesetzt sind, stehen sie nicht allen offen.

Die Folgen dieser Chancenungleichheit sind aber sehr tiefgreifend, da Bildungsprozesse am Schnittpunkt zwischen politischen Vorgaben und persönlichen Lebensumständen stattfinden. Vielleicht zeigt das Folgende, dass eine Bildungsgeschichte dort beginnen kann, wo sie hätte enden sollen.

Herkunftsscham

Im vergangenen Jahr sind zwei Bücher erschienen, in denen autobiografische Bildungsgeschichten erzählt werden. Das eine ist Didier Eribons «Rückkehr nach Reims». Es sucht in der Lebensgeschichte des Autors Erklärungen für den Aufstieg des Front National in Frankreich. In J. D. Vances «Hillbilly-Elegie» ist es die Welt US-amerikanischer Hinterwäldler, die der Autor verlassen hat und auf die er als erfolgreicher Unternehmer kritisch zurückblickt. Randvoll mit Vorurteilen, so beschreibt er es, schmoren diese Leute in ihrem eigenen Saft, von der Regierung im Stich gelassen. Die Fabriken, in denen sie noch in den siebziger Jahren schufteten, sind verschwunden, heute wird billiger in China produziert. Zur Passivität verdammt, sitzen sie im Stroboskopfeuer ihrer Fernsehgeräte, löschen Langeweile mit noch mehr Langeweile aus, um langsam in einer träge brodelnden Suppe aus Gewalt, Apathie, Drogen und einer bizarren Religiosität ohne jedes Fundament unterzugehen.

Vance klagt in seinem Buch vor allem die Apathie dieser Menschen an. Höhere Bildung, wie er sie erfahren hat, sei vollkommen nutzlos, wenn es darum gehe, diesen Sumpf, aus dem auch viele Donald-Trump-WählerInnen kommen, auszutrocknen. Davon ist Vance überzeugt, und damit hat er wohl auch recht. Auch in mittel- und nordeuropäischen Ländern, in denen soziale Verheerungen in dieser Dimension unbekannt sind, stellen ExpertInnen wohlfeile Bildungsthesen von gesamtgesellschaftlicher Reichweite längst infrage. Bildung, auch höhere Bildung, ist kein Impfstoff gegen soziale Probleme. Bildung alleine beseitigt keine Vorurteile, sie erzieht die Menschen nicht automatisch zu Solidarität und Toleranz.

Ich hatte Eribons Text im vergangenen Jahr gelesen. Nun, da ich ihn wieder zur Hand nahm, um über meinen eigenen Bildungsaufstieg zu berichten, geschah etwas Merkwürdiges. In «Rückkehr nach Reims» schildert der Autor, was mit ihm als «sozialem Überläufer» geschehen sei, als der ambitionierte Student von beinahe ganz unten langsam in die distinguierten Pariser Gelehrtenzirkel vordrang. Den neuen FreundInnen gegenüber verschwieg Eribon nämlich die eigene proletarische und auch homophobe Familie und betonte stattdessen seine Homosexualität. Herkunftsscham nennt er das starke Gefühl, das ihn damals befallen und dazu gebracht habe, die einfachen Verhältnisse, aus denen er stammt, zu verleugnen, um ein neues Leben führen zu können.

Doch wofür sollte er sich schämen? Wäre sein biografischer Hintergrund nicht im Gegenteil auf Bewunderung und Interesse gestossen im linksintellektuellen Milieu der siebziger Jahre? Es ist ihm doch ein beachtenswerter sozialer Aufstieg gelungen. Warum also beschreibt er sich als klassenflüchtig, weshalb tut er sich so schwer mit dem, was man gemeinhin Herkunft nennt? Ich rief meine Eltern an, bohrte in ihren Erinnerungen, fragte nach ihrer Schulzeit, ihren Eltern, ihrer Arbeit, wie sie heute darüber dächten. Die Antworten kamen zögerlich. Das sei zu privat, habe nichts verloren in einer Zeitung. Sie haben natürlich vollkommen recht. Mir wurde klar, dass mir die frühere Bildungstopografie nicht mehr zugänglich ist. Wer einen weiten Bildungsweg zurücklegt, verändert auch die Sicht auf sich selbst von Grund auf.

Sozial ausgefiltert

Meinen Bildungshorizont hatte die Volksschule nicht zu erweitern vermocht. Die Alltagskultur, die mich damals umgab, war bis in die feinsten Verästelungen klassentypisch ausgeprägt. Dazu gehörte auch das demonstrative Desinteresse für Fragen der Bildung. Dies begünstigte eine Art von Lebenshaltung, die sich eher durch Verweigerung und Passivität als durch Aneignung auszeichnete. In einem solchen Milieu ist – ich denke, das gilt auch heute noch – die Erwartung, dass die Kinder still auf den Platz ihrer Eltern nachrücken sollen, von solch beharrlicher Vehemenz, dass niemand sie aussprechen muss.

Noch als junger Erwachsener hatte ich nicht verstanden, wozu eine Matura überhaupt gut sein könnte. Universitäten waren wenig mehr als eigenartige Schauplätze in Spielfilmen; in ihnen konnte man Arzt werden oder den Bau von Atombomben lernen. Ich befand mich in einer Welt, die sich ohne meinen Widerstand immer enger um mich gelegt hätte.

Hätte mich damals jemand gefragt, was ich gerne werden wollte, wäre die Antwort wohl Journalist gewesen. Auch das wusste ich aus Spielfilmen: Journalisten sind Männer, deren schlecht gescheitelte Köpfe an zerknautschten Zigaretten hängen und die mit stählernen Zeigefingern wie wild auf die Tastaturen mechanischer Schreibmaschinen einstechen. So können sie den Lauf der Dinge beeinflussen. Sie sitzen in riesigen Redaktionsräumen und unter gelblich glimmenden Deckenleuchten.

Lange hatten meine Eltern erfolglos nach einer behindertengerechten Wohnung gesucht, nachdem mein Vater auf einer Baustelle schwer verunfallt war. Die Rente war äusserst knapp bemessen, die Folgen des Unfalls wirkten sich auf allen Ebenen verheerend aus. So viel darf ich erzählen: Man behandelte unsere Familie am neuen Wohnort wie Aussätzige. Die Kinder rebellierten, ich am heftigsten.

Unsere Wohnung lag nur wenige Schritte vom Geschäftssitz der örtlichen Zeitung. Von der Strasse aus war die kurze Produktionsstrecke zu sehen, die Büros, die Druckerei, die Rampe, an der die Lieferwagen auf die Papierbündel warteten. Doch wie wurde man Journalist? Angeblich durch die schwarze Hintertür – vom Schriftsetzer zum Journalisten. Meine Mutter versuchte also, für mich eine solche Schnupperlehre zu organisieren. Zumindest stelle ich mir das so vor, denn mein Klassenlehrer hatte nie auch nur das geringste Interesse an mir bekundet. Indes zeigte sich rasch, dass mir die Zeitung noch nicht einmal die drei Tage Druckerschwärze zugestehen wollte. Widerwillig liess man mich stattdessen einen Vormittag lang die alten Bleisetzer dabei beobachten, wie sie in ihren blauen Arbeitskitteln am Pistolengriff des blitzblanken Fotosatzgeräts herumhantierten, das sie wahrscheinlich bald darauf arbeitslos gemacht hat. Später wurde ich in ein Büro gerufen, wo es hiess, eine Bewerbung würde in meinem Fall nichts bringen. Die Schulnoten, die langen Haare, die mangelnde Intelligenz; man sprach damals mit mir schon wie mit einem Erwachsenen.

Abgeschoben in die Fabrik

Ich wurde stattdessen in die grösste Fabrik des Dorfs abgeschoben, in eine Lehre, die keine war. Wie es dazu kam, weiss ich nicht mehr, aber die Wahl war auf einen eigenartigen, industriellen Beruf gefallen, den man gerade erst von einer einjährigen Anlehre zu einer dreijährigen Ausbildung aufgeblasen hatte. Die anderen Lehrlinge – sie erlernten im geschützten Rahmen der betriebseigenen Lehrwerkstatt einen anspruchsvollen Beruf wie Feinmechaniker oder Kunststofftechnologin – lachten uns zu Recht aus, meinen Mitlehrling und mich. Zwei Jahre Berufsschule wurden, ebenfalls völlig zu Recht, als ausreichend zur Ausübung unseres späteren Berufs betrachtet. Bei Vertragsabschluss war davon nie die Rede gewesen, aber man steckte uns vom ersten Tag an in die Produktion. Zu diesem Zweck wurden wir räumlich isoliert, in ein Nebenwerk am Dorfrand verpflanzt. Ich war gerade sechzehn Jahre alt geworden.

Über Nacht fand ich mich in eine Umgebung eingetaucht, die mir aus der Erinnerung unwirklich erscheint. Von schweigsamen Hilfsarbeitern umgeben, hielt ich die Nachstellungen und Schikanen, die harte, meine körperlichen Kräfte meist übersteigende Arbeit sowie die permanente Unfallgefahr, die von den kaum gesicherten, oft hoffnungslos veralteten Maschinen ausging, eineinhalb Jahre lang aus. Mein Mitlehrling verschwand schon einige Zeit zuvor, er wollte Surflehrer werden.

Heute kenne ich die Rationalität, die in den frühen achtziger Jahren dafür gesorgt hatte, dass ich als Jugendlicher in einem unsichtbaren sozialen Filter hängen blieb. Darüber, wie viele Mädchen und Jungen von diesem Ausfiltern betroffen waren, ist nichts bekannt. Auch heute noch sind empirisch belegte Studien zu diesem Themenkomplex in der Schweiz dünn gesät.

Doch das lässt sich sagen: Der Zugang zu höherer Bildung steht, statistisch gesehen, nicht allen offen. Auch in der Schweiz nicht. Dies zeigt sich besonders deutlich an den Übergängen von der Primar- und Sekundarschule zur Gymnasialstufe. Diese Bildungsübergänge sind soziale Flaschenhälse. Im klaren Vorteil sind Kinder gebildeter und auf gesunden finanziellen Beinen stehender Eltern. Diese besitzen das Wissen und die Mittel, ihren Kindern schon weit vorausschauend den Übergang freizuhalten. Die Eltern kennen den Lehrplan, wissen, welche Prüfungen wichtig sind, auf welche Fächerkombinationen es ankommt. Sie können für optimale Lernbedingungen sorgen. Sozial gut gestellte, bildungsaffine Eltern helfen auch, Netzwerke zu knüpfen, die ihren Kindern später Vorteile verschaffen werden. Sie weben ihre Kinder, wer sollte ihnen das vorwerfen, früh in den passenden gesellschaftlichen Zusammenhang ein. Von grosser Bedeutung sind auch die private Nachhilfe, das wachsame Insistieren beim Lehrpersonal, kaum dass sich schulische Schwierigkeiten abzeichnen. Auch weiss man aus der Bildungsforschung, dass Prüfungsergebnisse besser benotet werden, wenn hinter dem Kind die Eltern in Lauerstellung stehen.

Es scheint, als ob das auf maximale Konkurrenz hochgeschraubte Schulsystem das Ausfiltern noch verstärkt. Bildung wird widerspruchsfrei und in fataler Blickverengung bloss noch als Startrampe für späteren Erfolg betrachtet – beruflichen, finanziellen, sozialen. Wenn dies aber die unhinterfragten Primärvorgaben der Bildungspolitik sind, verstärken sich die Nöte derjenigen bloss, die gar nicht erst in das auf maximale Konkurrenz hochgeschraubte Bildungssystem hineinkommen – oder die sich, trotz guter Startbedingungen, darin nicht halten können.

Ausgerichtet wie Magnetnadeln

Soziale Chancengleichheit lässt sich auf diese Weise sicher nicht verwirklichen. Vielleicht, wenn sich Bildung an anderen Massstäben messen würde als an denen der Kompetenzaneignung. Denn Kompetenzen sind ja bloss Voraussetzung für Bildung, diese auf keinen eindeutigen Nenner zu bringende Beschäftigung mit denjenigen Fragen, die sich nicht zwangsläufig in neoliberale Optimierungsprozesse überführen lassen müssen. Schaut man sich die Positionspapiere der Parteien von links bis rechts an, sind in Bildungsfragen kaum mehr Unterschiede auszumachen. Sie alle behaupten: Was gut für die Wirtschaft ist, ist gut für dich. Niemand aus der Politik würde heute noch von Bildungszielen sprechen, die sich nicht wie kleine Magnetnadeln nach den Bedürfnissen der Wirtschaft ausrichten.

Hätte ich in der Volksschule Förderung erfahren, die meinen Möglichkeiten und Potenzialen entsprochen hätte – wer weiss, wie es weitergegangen wäre. Mit Sicherheit kann ich sagen: Gegen Ende der neun Schuljahre wäre es viel zu spät gewesen. Nichts hätte mich mehr in der Schule halten können, die Weichen waren längst gestellt.

Ich kann über meinen Bildungsweg nachdenken, wie ich will; mein «eigener» war es zu keinem Zeitpunkt. Auch die Metapher vom «Weg» führt, genau betrachtet, in die Irre. Ein Weg zeigt sich, wenn überhaupt, erst jetzt, im Rückspiegel. Doch wie war ich vom einen Punkt zum anderen gelangt? Vom sechzehnjährigen Fabriklehrling zu dem, der ich heute bin, führt kein eindeutiger Weg, kein gerader und auch kein verworrener.

Wie mochte ich früher gedacht haben? Unmöglich, das zu rekonstruieren. Denn so kontingent – also nicht vorherbestimmbar – wie die Bildungswege sind ihre Resultate.

Ich weiss noch nicht einmal, warum ich einige Jahre später einen ersten Anlauf genommen habe, die Matura nachzuholen. Alles, was mit Arbeit zu tun hatte, war mir feindlich geworden. Keine Stelle behielt ich lange. Ich war Hilfsarbeiter. In Lagerhallen und auf dem Bau tat ich mein Möglichstes, um diesen unerträglichen Situationen so rasch als möglich wieder zu entkommen. Ich spülte Teller in einer Betriebskantine, erfand Reiseberichte für den Katalog eines Trekkingunternehmens, und immer wieder ging ich stempeln und hoffte, dass mir meine Eltern und Freunde finanziell unter die Arme griffen.

Doch es war nicht das triste Arbeitsleben, das mich langsam in eine andere Richtung lenkte. Im Gegenteil sind schlechte Arbeitsbedingungen ein langsam wirkendes, aber sehr starkes Narkotikum. Man gibt irgendwann auf, ohne es zu wissen. Es waren die wöchentlichen, stundenlangen Telefongespräche mit einem Freund, die mir einen Ausweg aufzeigten. Wir kannten uns von Konzerten. Tagsüber arbeitete er in einem Autoersatzteillager, abends las er die Reisebücher von Charles Darwin, schrieb schwärmerische Briefe an den Graugansforscher Konrad Lorenz, ergründete die Evolutionstheorie Ernst Haeckels und wusste das alles zu einem, man kann es nicht anders sagen, magischen Ganzen zu schmieden, in dem auch Heavy Metal oder Kostümfilme aus den fünfziger Jahren gleichberechtigt einen Platz fanden. Einmal waren wir drauf und dran, einfach so in den Zug zu steigen und den Verhaltensforscher Konrad Lorenz an seiner Forschungsstelle in Österreich zu besuchen. Auch sassen wir atemlos in der Aula der Universität St. Gallen, als der Erkenntnistheoretiker Karl Popper über seinen logischen Empirismus referierte. Später besuchten wir Volkshochschulkurse an der Universität, sassen inmitten fleissig mitschreibender Pensionäre, während der Dozent über Fossilien und Alpenfaltung und Kontinentaldrift sprach.

Auch mein Freund und ich drifteten später auseinander. Wir hatten beide damit begonnen, im Fernstudium die Matura nachzuholen. Er wollte später Verhaltensforschung studieren, ich träumte von Vorlesungen in Evolutionsbiologie. Irgendwann hörte ich von Konrad Lorenz’ tiefen Verstrickungen in den Nationalsozialismus. Und dass Poppers Vorstellungen einer offenen Gesellschaft diejenigen zu FeindInnen erklärten, für die mein Herz leise zu schlagen begonnen hatte – Revolutionäre, UtopistInnen, Menschen, die an die Formbarkeit ihrer Zukunft glauben. Im selben Mass, wie mir ein bestimmtes Denken damals suspekt und ein anderes wünschbar wurde, hatte mein Freund sich in fragwürdige Thesen verbissen, die Gesellschaft als Natur und darum als unveränderlich verstehen wollten.

Eintritt in die Bildungssphäre

Nach kurzer Zeit schon scheiterte ich an den grünen Heften aus Zürich Oerlikon. Zu Hause zu lernen, während es draussen Häuser zu besetzen, Konzerte zu organisieren, Schallplatten zu veröffentlichen und den Bau eines Waffenplatzes zu verhindern galt – undenkbar. Noch einmal dauerte es einige Jahre, ehe ich einen weiteren Versuch unternahm, die Hochschulreife zu erlangen. Dieses Mal kamen die Impulse aus der konkreten Arbeitssituation. Mit viel Glück hatte ich eine Stelle im riesigen Zwischenhandelsbuchlager der Pinkus-Genossenschaft gefunden. Ich stellte Buchbestellungen zusammen, schnürte Pakete. Doch vor allem las ich sehr viel, meist auf dem Arbeitstisch der Packstation sitzend, vor mir Wände aus Büchern.

Nach einem Jahr wurde mir die Kündigung nahegelegt, doch das berührte mich kaum, denn ich wusste nun, wie es weitergehen musste, und so führte das eine zum anderen. 2001 endlich übersprang ich die Hürde, im Rückblick scheint es die höchste gewesen zu sein. Unmittelbar nach Erhalt des Maturitätszeugnisses schrieb ich mich an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich ein.

Das unkomplizierte Stipendienwesen, teils hervorragende LehrerInnen: Endlich war mir das Terrain geebnet worden. Jetzt war ich ein Bildungsüberläufer, nun lag alles Weitere an mir, denn das Erlernen der fachlichen Voraussetzungen ist bloss das eine. Etwas anderes ist die hohe Bereitschaft, vorgegebene Leistungen zu erbringen, ohne dass diese aktiv vonseiten der Universität eingefordert worden wären. Ich schloss noch nach der alten Studienordnung ab. Seither gilt das Bologna-System, das bedauerlicherweise die Verschulung der tertiären Bildungsstufe mit sich brachte. Nun hat die Optimierungslogik auch auf dieser Bildungsstufe das Zepter übernommen.

War das nun ein eigener Weg? Keinesfalls. Noch nicht einmal dann, wenn während eines geisteswissenschaftlichen Studiums die beiden wichtigsten Aneignungstechniken von Bildung geschärft werden, nämlich das Lesen und Schreiben. Tätigkeiten also, die Konzentration voraussetzen. Man stellt sich ihnen alleine. Wir kennen alle das Zerrbild der oder des Lesenden: eine Figur, die sich in Texte versenkt und dort mausallein im Nebel der Zeichen und Theorien herumstochert. Doch eigentlich ist man nie weniger allein als in der akribischen Auseinandersetzung mit dem, was andere Menschen gedacht und getan, nicht gedacht und nicht getan oder vergessen und verschwiegen haben. Vieles kann sich so verändern. Manchmal während des Lesens, manchmal erst viel später, in einem unvorhergesehenen Moment vielleicht. Alte Überzeugungen verflüssigen sich, oft ersetzen Fragen die Antworten. Bildung vergrössert die Welt.

Ich schloss das Studium der Geschichtswissenschaften mit dem Lizenziat, dem heutigen Master, ab. Doch dann liess mich ein weiterer glücklicher Zufall eine Auftragsarbeit ergattern, die ich zu einem Dissertationsprojekt umformen konnte. Vor wenigen Jahren wurde ich promoviert, und nun schreibe ich unter anderem an meinem zweiten Buch. Es wird voraussichtlich 2019 erscheinen.

Erich Keller

Von 2001 bis 2007 hat Erich Keller (49) Allgemeine Geschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und Neuere Deutsche Literatur studiert. Er wurde von der Universität Zürich 2015 zum Dr. phil. promoviert. Seine Dissertation «Bürger und Juden. Die Familie Wyler-Bloch in Zürich 1880–1954. Biografie als Erinnerungsraum» ist im Chronos-Verlag erschienen.

Keller ist Mitgründer des Vereins Swiss Music Archives und hat 2016 die Reihe «Popmusik, Archiv, Geschichte» im Schweizerischen Sozialarchiv Zürich kuratiert. Er schreibt regelmässig für die WOZ und arbeitet gegenwärtig an einer neuen Biografie von Amalie und Theo Pinkus-De Sassi.