Der Autodidakt: Der einzig mögliche Weg
Zeichnen und Malen hat sich Simon Kness selbst beigebracht, sein Kunststudium holt er in Museen nach. Der gelernte Maurer, Maler und Zeichner führt bis heute eine prekäre Existenz ohne Rückfahrkarte in ein sicheres Leben.
Abgemagert bis auf die Knochen lag der 1,93 Meter grosse Mann seit Tagen in einer Kleinbasler Altbauwohnung auf einer Matratze. Er war 36, stand mit leeren Händen da und kam nicht mehr hoch. Er war am Ende. Doch dann explodierte in seinem Hirn eine kleine Bombe. Er raffte sich auf, verordnete sich Übungen nach der Feldenkraismethode, versenkte sich in Ignatius von Loyolas «Exerzitien», joggte nachts den Rhein entlang, stieg danach in den Fluss und schwamm. Nach der Ertüchtigung übte er unten am Rheinhafen jeden Morgen am Schlagzeug, das ihm ein Musiker zur Verfügung gestellt hatte.
Jahre davor hatte Simon Kness all seine künstlerischen Versuche vernichtet. Mit einem Darlehen in der Tasche hatte er die Ostschweiz Richtung Wien verlassen. Als er nach einem Jahr der Stadt den Rücken kehrte und abgebrannt am Westbahnhof in den Zug stieg, hatte er es schon wieder getan: zerstört, was er in der Donaumetropole geschaffen hatte. Und als er sich nach sechs Jahren Berlin nach Basel absetzte, übergab er wieder die gesamte Produktion dem Müll. Jetzt, in Basel, setzte er von neuem an. Er malte von Grund auf Neues, verkaufte fünf Bilder an die Basellandschaftliche Kantonalbank, fand eine Galerie, investierte den Erlös in 200 Kilo Ölfarbe, spannte Leinwände, inhalierte den Geruch der Ölfarbe – und malte in seiner zum Atelier umfunktionierten Wohnung, wie er nie zuvor gemalt hatte.
Verstörende Farborgie
Simon Kness’ zeichnerische Begabung fiel früh auf – den Schulkameraden, den Eltern, den Lehrerinnen und Lehrern im St. Galler Rheintal. Der Vater war Maurer, die Mutter Hausfrau. Es war nicht so, dass Ästhetik im Elternhaus überhaupt keine Rolle gespielt hätte. In seiner Erinnerung steht da ein Hausierer an der Haustür und bietet Bilder zum Verkauf. Der Vater nahm ihm ein Bild ab, eine Flusslandschaft, im Bildhintergrund die Bergkette der Churfirsten. Der Primarschüler schaute es sich genau an, ihn interessierte die Machart des konventionellen Bildes. Anregung gab es sonst kaum im Elternhaus. Keine Kunstbände, keine Bibliothek, in die er sich hätte vertiefen können.
Seine älteste Schwester absolvierte eine Hochbauzeichnerlehre. Der kleine Bruder blätterte immer wieder neugierig in ihrem Lehrbuch über Kunsttechniken und verleibte sich den Inhalt ein, soweit er ihn verstand. Eine Abbildung von van Goghs Gemälde «Célébration du 14 Juillet à Paris», eine verstörende Form- und Farborgie, hinterliess einen tiefen Eindruck. Er betrachtete es wieder und wieder. Manchmal ging ihm dabei ein Licht auf. Und er zeichnete weiter und begann zu malen. Der Vorgang selbst inspirierte ihn, er trieb ihn voran. Es hatte etwas Zwanghaftes. Das Talent des Jungen wurde bemerkt, die Eltern liessen ihn gewähren, aber gefördert wurde er nicht. Niemand mass dem weiter eine Bedeutung zu. Ausser der Bub. Zeichnete er, kam er zu sich selbst. Simon lernte durch Nachahmung, er nahm sich ein Vorbild an Comics, bald aber löste er sich von den Vorlagen und schuf eigene Figuren und Bilderwelten.
Der Schulstoff interessierte ihn mässig. Die Eltern legten Wert auf einigermassen gute Noten, damit er nicht unangenehm auffalle. Das klappte bis zur zweiten Sekundarklasse. Nun interessierte er sich mehr für Led Zeppelin. Während eines Welschlandaufenthalts fertigte er eine Zeichnung von einem Mühlrad an, statt Französisch zu büffeln. Die Lehrer waren zwar von der Arbeit angetan, der Klassenlehrer luchste sie ihm ab, sonst aber galt der Schüler als unmöglicher Kerl, der sich querlegte.
Todesengel und Untote
Dann trat er in die Fussstapfen seines Vaters. Die Maurerlehre war ihm wichtig. Doch er wusste, dass er Künstler werden würde. Mit dem ersten Lehrlingslohn kaufte er Ölfarben und ein Schlagzeug. Er versuchte, Bands zu gründen. Verkrachte sich mit dem Vater, verliess das Elternhaus. Und malte, wann immer er Zeit fand. Todesengel, Untote, die aus Gräbern steigen, düstere Stimmungen. Doch die harte Arbeit auf Baustellen und der Traum von der Künstlerexistenz liessen sich nur schwer vereinbaren. Abends war er zu erschöpft, die Unvereinbarkeit von Wunsch und Wirklichkeit setzte ihn unter Druck. Er begann zu trinken. Nachdem ihm drei Typen spätnachts vor einer Bar aufgelauert und ihn mit Schlägen in die Weichteile und Fusstritten in Rücken und an den Kopf übel zugerichtet hatten, witterte er überall Gefahr. Und kam nun möglichen Angriffen zuvor, indem er zuerst zuschlug.
Es war eine beschissene Mischung aus Angst, innerer Spannung und Alkoholexzessen. Überall sah er Bilder. So war es, als er eine schadhafte Wand einer Garage verputzen sollte, Gesichter schimmerten durch den Verputz, er rieb sie ab, aber sie tauchten wieder auf, er rieb und rieb und war spätabends immer noch damit beschäftigt. Der verwunderte Hausherr sagte: «Lass es gut sein, Simon, es ist doch schön verputzt.»
Die Ölbilder, an denen er an Wochenenden arbeitete, fanden Anklang. Er verkaufte sein erstes Bild für fünfzig Franken. Er empfand Stolz. Leute waren bereit, für seine Bilder zu bezahlen. Er entwarf Vorlagen für Tattoos, und für einen Kollegen bemalte er die Motorhaube eines alten Opels nach einem Plattencover von Iron Maiden.
Im Bildungsdelirium
Nach dem Lehrabschluss beginnt Simon Kness in die Tat umzusetzen, was er sich als Jugendlicher vorgenommen hat: Er will Musiker und Maler werden, sein Leben nimmt Fahrt auf, er besucht die Jazzschule in St. Gallen, spielt in Bands, trifft auf den aufstrebenden Kunstmaler Rolf Hauenstein, der ihm die Tür zur Welt der modernen Kunst öffnet. Er geht Hauenstein assistierend zur Hand, setzt Ideen handwerklich um, darunter eine selbstmalende Maschine. Die beiden Künstler malen in einem Gewölbe unter der Erde. Und in nächtelangen Sitzungen in Hauensteins Kunstküche, in die sich dessen Wohnung verwandelt hat, verarbeiten sie Farbe. Es ist ein wildes Auf und Ab, ein nicht enden wollendes Bildungsdelirium ohne Anfang, ohne Ende, ein fortwährendes Besäufnis auch.
Ende der achtziger Jahre langt Simon Kness an einen Tiefpunkt. Zehn Jahre Suchbewegungen ohne herzeigbares Resultat. Er packt zwei Koffer und besteigt, ein grosszügiges Darlehen in der Tasche, in Feldkirch einen Zug nach Wien. Dort sucht er den Schriftsteller Andreas Niedermann auf, den er aus St. Galler Zeiten kennt. Der Romancier lebt in stillgelegten Stickereiräumen, hinter dem «Nachtasyl», einer von einem Tschechen geführten Untergrundbar. Niedermann schaut verdutzt. «Du bist mein Engel», entfährt es dem Autor. Niedermann ist pleite. Kness hat viel Geld. Sie saufen sich durch Wiens Nächte. Nach einem Jahr geht auch der Maler pleite. Er vernichtet, was er in Wien künstlerisch zustande gebracht hat. Dann kauft er mit dem letzten Geld eine Rückfahrkarte.
Odyssee eines Obdachlosen
Es ist der Anfang einer langen Odyssee durch Schweizer Städte – St. Gallen, Basel, Zürich, Bern, Lausanne. Obdachlosigkeit. Leben in Bahnhöfen. Im Zürcher Shopville sitzt er mit PennerInnen an eine Wand gelehnt, einen beschrifteten Karton vor sich. Eine aufgetakelte Frau in Begleitung von drei Geschäftsmännern geht vorbei und lacht ihm hämisch ins Gesicht. Kness denkt: Wahrscheinlich hat sie recht, ich gebe ein erbärmliches Bild ab. Und doch wäre er am liebsten aufgestanden und hätte ihr die Fresse poliert. Die Winternächte verbringt er in Telefonzellen. In Bern landet er im Nachtasyl der Heilsarmee, verdingt sich auf dem Gerüstebau. Es ist Winter, Kness steckt in den einzigen Hosen, die er besitzt, Flanellhosen; er fliegt aus dem Nachtasyl, mietet ein Mansardenzimmer, kauft Farben – und setzt seine künstlerische Arbeit fort. Dann findet er dank eines Freundes ein Atelier in einer stillgelegten Sägerei in einem Lausanner Vorort. Diese Episode ist nach wenigen Monaten bereits Vergangenheit. In der Ostschweiz bewegt er sich schliesslich in einem losen Netzwerk von FreundInnen, die prekär unterwegs sind wie er. So lernt er die Schauspielerin Dina Leipzig kennen, die in «Tagediebe» des Schweizer Regisseurs Marcel Gisler eine tragende Rolle spielte. Er folgt ihr nach Berlin. Sie werden ein Paar.
In der Grossstadt verdient er gutes Geld als Kulissen- und Bühnenbauer in den Filmstudios in Babelsberg und fürs Fernsehen. Seine handwerkliche Ausbildung kommt ihm zugute. Es sind lange Arbeitstage. Am Ende des Tages wird gekokst und gesoffen. Am Morgen geht es früh wieder los. Nun hat er Geld. Er kann sich Zeit kaufen fürs Malen, Zeichnen und für Museumsbesuche. So verbringt er Stunden und Tage vor den Werken der Künstlerinnen und Künstler und studiert ihre Arbeiten. Daran, dass er Talent hat, hat er nie gezweifelt. Aber je mehr er weiss, desto mehr wird ihm klar, dass er noch wenig Ahnung von Malerei hat. Er treibt seine künstlerische Produktion voran – doch am Ende der Berliner Zeit entsorgt er alles. Er setzt sich ab in die Schweiz. Nach Basel.
Und wieder: Nullpunkt. Es fühlt sich an, als hätte er seine Mitte verloren und würde wegkippen. Er liegt in der Altbauwohnung in Kleinbasel tagelang auf jener Matratze. Bis ihn dieser «Hirnschlag» trifft, der ihn nicht umbringt, sondern aufstehen lässt. 200 Kilo Ölfarbe. In der Wohnung, die er nun bezieht, gibt es keine persönlichen Gegenstände. Bloss Farbe, Leinwand, Papier, Zeichen- und Maluntensilien, eine Matratze und einen improvisierten Tisch. Es riecht streng nach Ölfarbe. Geil. Die Wände sind vollgestellt mit abstrakten Bildern, die alles wegzuwischen scheinen, was er zuvor produziert hat. Es ist das Fundament für das, was kommt. Er findet eine Galerie. Die Basler Kantonalbank kauft fünf Bilder. Anfang der nuller Jahre kehrt Kness nach St. Gallen zurück, wird Vater, eröffnet eine kleine Galerie, löst sich von der Abstraktion, er malt: Tiere, Kühe, Schwäne. Verwischungen.
Abkehr vom alten Leben
Und dann zieht er ins Rheintal, dorthin, wo alles angefangen hat. Das Leben bleibt prekär, Ateliers findet er in Abbruchobjekten, aber die künstlerische Arbeit steht jetzt auf einem soliden Fundament. Er stellt regelmässig aus. Kness verkauft Arbeiten an Private, Banken – auch der Kanton St. Gallen ersteht Werke. In wenigen Wochen schafft er in seinem Atelier über einer stillgelegten Metzgerei eine aussergewöhnliche Porträtserie für eine Ausstellung. Dutzende Leute sitzen Modell. Das Genre des Porträts dient der Weiterentwicklung seiner Malerei. Er findet seine künstlerische Sprache. Und fertigt in Moleskinheften, Format A6, die er ständig bei sich trägt, seismografische Zeichnungen an. Sie füllen Zehntausende Seiten. Seine Ausdruckspalette ist breit – Skizzen, Zeichnungen, Aquarelle, Tuscharbeiten, Monotypien, kleinformatige und monumental anmutende Ölbilder, auf denen die Farben dunkel und düster explodieren und doch die Welt ordnen, er schafft wuchtige und zugleich elegante Eisenskulpturen. Was ihm in den Anfängen als unerträgliche Störung erschien, die Brotjobs auf dem Bau, sind jetzt Teil seines Künstlerlebens. Er baut Natursteinmauern, verputzt und mauert, führt Holz-, Stahl- und Schweissarbeiten aus. Zuletzt schmiedet er für eine Freimaurerloge einen Schlüssel nach Vorlage.
Eine formale künstlerische Ausbildung hat Simon Kness in all den Jahren nie in Betracht gezogen. Seine Kunst entwickelt sich aus seinem Alltag und der Auseinandersetzung mit den alten Meistern. Die künstlerische Entwicklung ist unauflöslich mit seinem Lebensweg verflochten. Es geht nur so, es ist der mir einzige mögliche Weg, denkt er. Sucht er Halt, liest er in seinen ständigen Begleitern: Peter Handkes «Mein Jahr in der Niemandsbucht» und Ignatius von Loyolas «Exerzitien». Das Büchlein handelt von der radikalen Abkehr vom alten Leben, vom Abschied von der Lebensangst.