Wohnen und Sozialhilfe: Reise zu den eigenen vier Wänden
Pina Paz erzählt von ihrer Odyssee durch die Schweiz auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung. Ihre Erfahrung zeigt: Arme haben wenig Chancen, in Zürich eine Wohnung zu finden. Und am Ende profitieren ImmobilienbesitzerInnen, die fast die Hälfte der Sozialhilfegelder kassieren.
In jenen Tagen im Mai ist Pina Paz glücklich. Sie hat ein altes, niedliches Wohnmobil gefunden. Das Gefährt ist angeschrieben mit «Emma». Wenn es nicht anders geht, wird sie im Jura einen Platz suchen, auf dem sie in «Emma» überwintern kann. Oder sie findet dort eine Wohnung. Ja, eine Wohnung hätte sie gerne. Und dass man sie ihn Ruhe lassen würde, damit sie schreiben kann.
Paz ist eine moderne Nomadin, die von der Armut durchs Land getrieben wird, auf der Suche nach einer Bleibe, die sie sich leisten kann. Sie will ihre Geschichte als Pina Paz erzählen und nicht unter ihrem richtigen Namen, denn das würde Ärger geben.
Den Anfang von Paz’ Odyssee festzumachen, ist nicht einfach. Vermutlich beginnt sie schon, als ihre Mutter vor über einem halben Jahrhundert aus Portugal in die Schweiz kommt. Paz’ Eltern hatten sich in Portugal kennengelernt. Ihre Mutter reiste ihrem Liebsten nach. Nach fünf Jahren wurde sie schwanger, der gebürtige Zürcher hatte aber schon eine Familie. Ein schlechter Mensch sei er nicht gewesen, sagt Pina Paz heute, mehr ein Lebemann halt. Er kümmerte sich um seine neue Familie und brachte sie in Wohlen im Kanton Aargau unter. Die kleine Stadt im Reusstal hatte er gewählt, weil dort in den sechziger Jahren – anders als im Kanton Zürich – das Konkubinat nicht mehr verboten war.
Pina Paz’ Vater stirbt, als sie drei Jahre alt ist. Es fehlt fortan an Geld, ihre Mutter arbeitet viel, Pina kommt ins Heim und zu Pflegefamilien. Bereits vor der Einschulung attestiert ihr die Gemeindebehörde hohe intellektuelle Fähigkeiten. Trotzdem bringen die Behörden sie später für vier Jahre in einem evangelischen Heim für Minderbegabte und Schwererziehbare unter. Sie wird in ihrer Kindheit viel geplagt, missbraucht, erniedrigt.
Es beginnt mit dem Jobverlust
Doch sie strampelt sich frei, holt mit 37 die Matura nach und studiert Sozialarbeit. In der Stadt Zürich hilft sie mit, die Abteilung Sicherheit Intervention Prävention (Sip) Züri aufzubauen. Die Sip-Leute gehen zu den Menschen auf die Strasse, helfen und beraten. Am Anfang hält Paz die Sip für ein tolles Projekt. Doch dann wird die Gruppe in eine feste Einheit umgewandelt und immer mehr zu einer Art Polizei. Die MitarbeiterInnen bekommen Uniformen und sind bei Alkiszenen-Räumungen dabei. Pina Paz beginnt zu opponieren, wird strafversetzt und verlässt später die Sip. Sie spürt auch, wie ihre Heimvergangenheit sie einholt und leidet unter Phobien, will das aber nicht wahrhaben.
Ihre eigentliche Odyssee beginnt, als sie im November 2011 ihren Job in einem Heim für suchtabhängige Erwachsene verliert. Sie ist 47, wohnt im Zürcher Weinland und bewirbt sich fleissig. Damals hat sie einen Hund und zwei Kater. Ihr Berater auf der Arbeitsvermittlung meint, das gehe nicht, mit einem Hund sei sie nicht vermittelbar. Irgendwie sieht sie das ein und sucht für ihre Raya einen Platz. Schwer war das und ist es heute noch, sagt sie.
Pina Paz findet trotzdem keinen Job und beschliesst, nach Biel zu ziehen – vor allem, weil es in Biel günstige Wohnungen gibt. In einer städtischen Liegenschaft findet sie für 520 Franken pro Monat eine Zweizimmerwohnung in einem Altbau.
Kaum hat sie diese eingerichtet, erhält sie von der Stadt einen Brief, worin ihr mitgeteilt wird, man plane die Liegenschaft zu verkaufen. Inzwischen ist Paz ausgesteuert und bezieht Sozialhilfe. Seit ein SVP-Mann das Bieler Sozialdepartement leitet, ist der Ton strenger geworden. Das Sozialamt teilt ihr mit, sie müsse sich abmelden, wenn sie mehr als zwei Tage nicht in der Stadt sei.
Die Liegenschaft mit ihrer Wohnung wird ein Jahr später an eine Genossenschaft verkauft. Diese kündigt an, das Haus total zu sanieren, alle müssten für ein halbes Jahr raus. Paz’ Miete wäre nach der Renovation auf 900 Franken im Monat gestiegen.
Was darf eine Wohnung kosten?
Paz weiss, dass sie ihre Zweizimmerwohnung kaum wird halten können. Denn jede Gemeinde hat für SozialhilfebezügerInnen Mietrichtlinien, die festlegen, wie viel ihre Wohnung kosten darf. In Biel akzeptiert das Sozialamt für einen Einpersonenhaushalt höchstens eine Miete von 700 Franken, in der Stadt Zürich werden für ein Zimmer mit Gemeinschaftsküche höchstens 900 bezahlt, für eine Wohnung 1100 Franken, in der Stadt Bern sind es 900, in St. Gallen 800 und in Basel 700 Franken. Theoretisch orientiert sich der sogenannte Mietzuschuss an den örtlichen Mieten. Da steckt aber viel Willkür drin, denn in St. Gallen kann man relativ einfach für 800 Franken eine Wohnung mieten, in Zürich lässt sich jedoch für 1100 Franken kaum etwas finden, weil es kaum leere Wohnungen gibt. Der Leerwohnungsbestand liegt in Zürich bei 0,11 Prozent, was bedeutet, dass von tausend Wohnungen eine leer steht. In St. Gallen sind es fünfzehn.
In Zürich machen immer wieder LiegenschaftenbesitzerInnen Schlagzeilen, weil sie vergammelte, verschimmelte Wohnungen und Zimmer zu Wucherpreisen an SozialhilfeempfängerInnen vermieten. Die MieterInnen wagen es nicht, sich zu wehren, weil sie wissen, dass sie kaum etwas anderes finden.
Eine Statistik, welcher Anteil der Sozialhilfegelder über die Mieten zu den LiegenschaftenbesitzerInnen fliesst, existiert nicht. Das Bundesamt für Statistik (BFS) hat versucht, die Daten für den Kanton Zürich aufzuschlüsseln. Es kommt zum Schluss, dass der Mietzins im Schnitt 42 Prozent der Gesamtausgaben von SozialhilfeempfängerInnen ausmacht. Insgesamt muss der Anteil der Fürsorgegelder, der aufs Konto der VermieterInnen fliesst, nach Schätzungen des BFS aber noch höher liegen – weil auch Working Poor unterstützt werden, die wegen der Mieten nicht alleine über die Runde kommen. Grob gerechnet sind das im Jahr über eine Milliarde Franken – von 2,4 Milliarden Sozialhilfegeldern, die schweizweit ausbezahlt werden.
Mit nichts auf der Strasse
Pina Paz schreibt Gedichte und Romane. Einen hat sie fertig, ein zweiter ist in Arbeit. Publiziert hat sie noch nicht viel. Aber schreiben kann sie. Und sie hat auch schon Preise und Stipendien gewonnen. Sie publiziert unter dem Ledignamen ihrer Mutter – weil sie nicht möchte, dass die Leute ihre Texte aus Mitleid lesen, sei ihr Künstlername hier verschwiegen.
Im Herbst 2013 schlägt eine Schriftstellerin, mit der Paz bekannt ist, sie für das neue «Berg und See»-Stipendium vor. Es ist organisiert von KünstlerInnen und mitfinanziert von Ostschweizer Kantonen. Wer es bekommt, soll ein halbes Jahr im thurgauischen Gottlieben und auf dem St. Anton hoch über dem St. Galler Rheintal residieren und schreiben können – so das Versprechen. Ausserdem hätte es im Monat 4000 Franken in bar gegeben.
Anfang 2014 erfährt Pina Paz, dass sie das Stipendium bekommt. Sie kündigt ihre Wohnung und meldet sich beim Bieler Sozialamt ab. Sie verkauft und verschenkt, was sie nicht dringend braucht. Von den 3000 Büchern, die sie ihr ganzes Leben lang gesammelt hat, behält sie 300. Sie kauft einen alten Opel und möchte mit ihm noch einen Monat herumreisen, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmet. Das war der Plan.
Anfang April 2014 erhält sie einen Brief, in dem ihr mitgeteilt wird: Das «Berg und See»-Stipendium könne nicht ausgerichtet werden, weil das Geld nicht zusammengekommen sei. Pina Paz sitzt da ohne Wohnung und ohne Sozialhilfe. In der ersten Not kommt sie bei der Familie unter, die schon ihre Hündin aufgenommen hat. Die Leute haben im Bernbiet einen Hof mit Reitpferden. Pina Paz konnte es schon immer gut mit Pferden. Sie schläft in einem kleinen Studio über dem Stall, neben Halftern und Sätteln. Drei Monate lang kümmert sie sich um die Pferde. Sie verdient nichts ausser Kost und Logis. Dann zieht sie weiter, lässt sich in der Nähe von Bern auf einem Zeltplatz nieder, schläft in ihrem Auto, bastelt sich ein kleines Vordach. Doch schon am nächsten Morgen kommt die Chefin des Campingplatzes und sagt, Paz könne hier nicht hausen, das gehe nicht. Sie zieht auf einen Campingplatz an der Aare, da ist man lockerer und lässt sie wohnen. Ihr Kater Elias ist bei ihr. Den anderen Kater musste sie schon weggeben. Sie erinnert sich noch gut, wie der Kater krank war und sie kein Geld hatte, um das Tier behandeln zu lassen. Furchtbar sei das gewesen. Das Tier brauchte Spezialfutter, das sich Paz nicht leisten konnte. Jetzt lebt die Katze bei Leuten, die das vermögen. Zum Glück, sagt Paz.
In Bern geht sie verzweifelt zur Beratungsstelle der Heilsarmee. Sie darf im Büro den Computer benutzen, damit sie nach Wohnungen suchen und ihre E-Mails lesen kann. Sie erhält eine Liste von Notunterkünften und Hotels, die Zimmer vermieten, aber sie findet nichts Passendes. Geld hat sie nicht mehr viel. Irgendwann denkt sie an Selbstmord. Doch bevor es so weit kommt, weist sie sich selbst in die Psychiatrische Klinik Waldau ein – das sollte sich noch rächen, aber das wird sie erst später realisieren.
Nach zwei Wochen entlässt sie sich selbst, fährt mit ihrem Opel nach Zürich und übernachtet bei einer Bekannten im Atelier. Sie geht aufs Sozialamt. Man sagt ihr, sie könne nur Sozialhilfe beantragen, wenn sie in Zürich gemeldet sei. Ohne Geld und Arbeit hat sie in Zürich aber schlechte Chancen, eine Wohnung zu bekommen. Und ohne Wohnung kann sie sich nicht anmelden (vgl. «Für die Sozialbehörde rechnet sich die Obdachlosigkeit» ).
Sie geht zur Obdachlosenhilfe. Die Beraterin versucht, ihr zu helfen, kann aber auch nicht viel tun. Sie schickt sie in die Frauenoase, eine Art betreutes Hotel mit Frühstück. Ein Zimmer kostet zwischen 900 und 1350 Franken im Monat. Kater Elias darf dort nicht wohnen. Regelmässig werden die Zimmer durchsucht, das habe sie bedrängt und an ihre Heimvergangenheit erinnert, sagt Paz. Also wohnt sie weiter im Atelier der Bekannten.
Eine fatale Betreibung
Per Zufall findet sie im letzten Herbst in Zollikon ein Zimmer. Zwischen Villen steht ein altes, zweistöckiges Haus. In einigen Monaten soll es abgerissen werden. Pina Paz kann darin ein Zimmer und ein Badezimmer mieten. Zwischen Zimmer und Bad liegt ein kleiner Gang, da stehen zwei elektrische Kochplatten und ein kleiner Kühlschrank, das ist ihre Küche. Sie hat diese Ecke mit einem Vorhang abgetrennt, um sich etwas Privatsphäre zu verschaffen, weil sonst die NachbarInnen stets an ihrer offenen Küche vorbeigehen. Die Toilette ist um die Ecke, die muss sie sich mit andern Leuten im Haus teilen.
Inzwischen wird sie wegen ihres Aufenthalts in der Psychiatrischen Klinik von der Krankenkasse auf über 2000 Franken betrieben. Pina Paz hatte ihre Krankenkassenprämie reduzieren wollen und erhöhte deshalb die Franchise. Jetzt kann sie den Selbstbehalt nicht bezahlen. Das ist fatal, denn wer sich auf eine Wohnung bewirbt, muss einen Auszug aus dem Betreibungsregister vorlegen. In Zürich hat man mit einer Betreibung keine Chance, eine Wohnung zu bekommen.
Im Unglück hat Paz auch ein bisschen Glück. Als ehemaliges zwangsversorgtes Heimkind erhält sie letzten Herbst 8000 Franken. Der Bund zahlt das Geld als Nothilfe an ehemalige Verding- und Heimkinder aus. Die Bundesgelder reichten für die Aufarbeitung dieses trüben Stücks Schweizer Geschichte nicht weit, sagt Pina Paz, aber das wäre eine andere Story. Ihr gewährt das Geld immerhin etwas Spielraum.
Im Mai kassiert sie nur Wohnungs- und Jobabsagen und fühlt sich zunehmend erschöpft. Sie entscheidet deshalb, von der Nothilfe ein Wohnmobil zu kaufen, und findet «Emma», den kleinen Camper. Mit ihm will sie dorthin fahren, wo es noch günstige Wohnungen gibt. Am liebsten in eine Gemeinde, die nicht SVP-dominiert ist und wo SozialhilfeempfängerInnen nicht drangsaliert werden.
Jede Gemeinde organisiert ihr Sozialwesen autonom, das macht die Suche schwierig. Die Gemeinden sollten verpflichtet werden, online anzugeben, wie ihre Mietzinsrichtlinien seien, sagt Paz, sonst wisse man ja nicht, welche Wohnungen man sich leisten könne und welche nicht. Bei den grösseren Städten steht das auf ihren Websites; bei den kleineren Gemeinden muss man telefonisch nachfragen, was demütigend sei, sagt Paz. Die Gemeinden wollen wissen, warum man sich dafür interessiert. Da könne es schon passieren, dass man runtergemacht werde.
Die Wohnungsnot nötigt Pina Paz, dem günstigen Wohnraum hinterherzuziehen. Wie viele Menschen das sonst noch tun müssen, lässt sich nicht sagen. Über die Mobilität in der Sozialhilfe gibt es kaum Daten. Im Kanton Zürich hat das BFS die Mobilität der SozialhilfebezügerInnen etwas genauer analysiert. Einige Städte wie Winterthur, Dietikon oder Wetzikon «weisen einen positiven Saldo auf», schreibt das BFS. Das heisst, es ziehen mehr SozialhilfebezügerInnen zu als weg. Die Stadt Zürich, Uster und Andelfingen haben hingegen einen negativen Saldo, da reduziert sich die Zahl der SozialhilfebezügerInnen leicht.
Keine Freundin, kein soziales Netz
Es entsteht ein heimlicher Wettbewerb: Alle Gemeinden streben einen negativen Saldo an, auch wenn sie das nicht offen sagen. Das schaffen sie, indem sie billigen Wohnraum zum Verschwinden bringen – und Neubauten und Renovationen fördern. Schlägt nach der Renovation die Miete auf und übersteigt die Mietzinsrichtlinie, verlangen die Sozialämter für gewöhnlich, dass sich die Betroffenen eine andere, günstigere Wohnung suchen. Wie sie das hinbekommen, ist ihnen überlassen.
Pina Paz freut sich nicht lange über ihre «Emma». Als sie den Camper einrichtet, realisiert sie, dass der hintere Holzaufbau nass und morsch ist. In dem maroden Gefährt lässt sich nicht überwintern, es sei denn, Paz investierte einige Tausend Franken, die sie nicht hat. Der Autohändler hat sie betrogen. Sie müsste nochmals in die Garage, um ihn zur Rede zu stellen, hat aber niemanden, der sie begleiten würde. «Wenn man arm ist, verliert man fast alles – auch sein soziales Netz», sagt sie. Man hat kein Geld, um ins Restaurant oder ins Kino zu gehen. Man mag sich nicht immer einladen lassen, und selber kann man niemanden einladen. «Wenn du arm bist, wird dein ganzes Umfeld in Geiselhaft genommen. Da sitzt du tagelang allein zu Hause, hast niemanden zum Reden. Wenn du dann endlich wieder einmal deine Freundin triffst, quatschst du sie voll mit deinen Problemen.» Da würden sich früher oder später alle abwenden – und das könne sie auch verstehen: «So habe ich meine einzige Freundin verloren. In letzter Zeit fühle ich mich oft, als dürfe ich nicht sein.»
Allein getraut sich Pina Paz nicht, zum Autohändler zu fahren, also fahren wir zu zweit. Der Händler wirkt aufgeräumt und glatt. Er sagt, ihm sei es egal, sie könne schon gegen ihn prozessieren, juristisch sei alles korrekt gelaufen, aber er wolle ihr keine Schwierigkeiten machen. Jovial willigt er ein, «Emma» zurückzunehmen und einen grossen Teil des Geldes zurückzuerstatten.
Nachtrag: Inzwischen hat Pina Paz in einer Ostschweizer Gemeinde eine Wohnung gefunden, die sie sich leisten kann.