Landesstreik: Ein Mosaik statt Agitation
In Olten inszenieren rund 200 LaienschauspielerInnen den Landesstreik von 1918. Nicht als Reenactment, sondern als demokratisches Experiment.
Eine BürgerInnenwehr marschiert als Chor durch die weite Industriehalle und intoniert «Heraus, ihr bürgerlichen Brüder». Ihr gegenüber stapft ein ArbeiterInnenchor und stimmt Max Kegels «Sozialistenmarsch» an: «Es gilt, die Arbeit zu befreien, es gilt der Freiheit Auferstehn!» Der Chor zerfällt, der Text muss noch einmal geübt werden. Die SchauspielerInnen versammeln sich im Kreis. Die Nachrichten des Tages werden verlesen: eine E-Mail eines Mitspielers aus dem Spital, logistische Details. Jede Verkündung erntet Applaus. Die Baumwollhemden sind nassgeschwitzt, eine Frau sagt zum Tontechniker: «Jetzt häts doch do so vil Hebeli. Do häts doch eis für chalt?»
Unbeschriebenes Olten
Wir befinden uns in einer der Hallen einer alten SBB-Werkstätte gleich beim Bahnhof Olten. Hier proben LaienspielerInnen für die Inszenierung «1918.CH» über den Schweizer Landesstreik, der sich dieses Jahr zum 100. Mal jährt (vgl. «Der Landesstreik von 1918» im Anschluss an diesen Text). Über hundert Personen haben sich monatelang in einzelne Aspekte dieses historischen Ereignisses vertieft. Ein festes Ensemble spielt eine Rahmenerzählung, zwanzig Theatergruppen aus allen Landesteilen erzählen in ihren Beiträgen regionale Geschichten aus den Jahren rund um 1918. Je zwei der Truppen sind in jeder Vorstellung zu Gast. Regisseurin Liliana Heimberg spurtet mit einem Mikrofon in der Hand von einer Ecke der Halle zur anderen, rückt eine Schauspielerin mit blauem Rock sanft in einen Lichtkegel und gibt ein paar Anweisungen. Es muss anstrengend sein, hier den Überblick zu behalten, doch sie bleibt gelassen und freundlich, auch wenn nicht alles klappt: «Es chunt guät!»
Vor der Probe empfängt uns Liliana Heimberg auf einem Vorplatz, wo Schatten und ein Lüftchen vor der Hitze schützen. Im Verlauf des Gesprächs gehen immer mehr SchauspielerInnen an uns vorbei in die Halle, Heimberg begrüsst sie alle mit Namen. Die Regisseurin leitet seit 2008 nationale Forschungsprojekte zum Freilichttheaterschaffen in der Schweiz und inszenierte in vergangenen Jahren weitere ortsspezifische Grossprojekte, wie etwa das Festspiel der Appenzeller Kantone zum 500-Jahr-Jubiläum des Beitritts zur Eidgenossenschaft. Sie warnt uns: Diese Probe sei nicht repräsentativ für die Arbeitsweise bei der Vorbereitung. Heute müsse sie die Tätschmeisterin spielen, weil zum ersten Mal mit der Lichtanlage geprobt werde. Doch sie betont, dass ein Grossteil der Inszenierung nicht von oben diktiert, sondern im Ensemble, im Team gemeinsam und von den regionalen Theatergruppen selbstständig erarbeitet wurde. «Dass sich so viele Menschen diesem Prozess ausgesetzt und sich mit Geschichten rund um den Landesstreik auseinandergesetzt haben, ist bereits ein Erfolg.» Darin liegt für sie das Politische am Stück. Kein Agitationstheater also, sondern ein soziales Experiment und ein Mosaik aus zahlreichen Stimmen und Perspektiven.
Die historische Rezeption des Landesstreiks ist bis heute kontrovers. Vor allem in bürgerlichen Kreisen hält sich eine von HistorikerInnen längst widerlegte Lesart: dass der Streik von den Bolschewiki zum Zweck eines kommunistischen Umsturzes angestiftet wurde. Auch dominiert in der öffentlichen Diskussion eine Perspektive, die stark von prominenten Akteuren ausgeht. «Doch der Landesstreik wurde nicht von drei Männern gemacht», bemerkt Heimberg. Der Theaterabend fokussiere bewusst auf die Geschichten der Streikenden selber – der Frauen, der Soldaten, der Eisenbahner –, die teilweise noch völlig unbekannt seien.
Dazu passt auch der Spielort Olten. Für Heimberg war nicht in erster Linie das Oltener Aktionskomitee rund um den sozialdemokratischen Politiker Robert Grimm, den berühmten Leiter des Komitees, der Grund für die Wahl des Spielorts. Olten sei kein Gravitationszentrum des Streiks gewesen und daher im Vergleich zu Zürich oder Bern eher unbeschrieben – ein Ort also, der Raum bietet für neue Geschichten. Die ständige Rücksprache mit rund zehn HistorikerInnen war für Heimberg grundlegend. Ein wichtiger Fokus des Rechercheteams lag auf verschiedenen Frauenfiguren, die 1918 Geschichte schrieben.
Zu jenen Protagonistinnen gehören nicht nur Vertreterinnen der ArbeiterInnenbewegung wie die berühmte Frauenrechtlerin Rosa Bloch-Bollag, die im Oltener Aktionskomitee sass, sondern auch bürgerliche Frauen. Eine von ihnen ist Else Spiller, die während des Kriegs rund tausend alkoholfreie Soldatenstuben eröffnete, um die schlecht bezahlten Soldaten mit gesundem Essen zu versorgen. Durch die von ihr angeregte Wehrmannshilfe erhielten Familien Unterstützung, die wegen der drastischen Teuerung und des Ausfalls der Männer durch die Mobilisierung in Not geraten waren.
Gerade beobachten wir in der Halle eine Szene, die auf einem Platz in Delémont spielt, wo Else Spiller ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Rund um einen roten Oldtimer stehen Frauen mit eleganten Hüten und laden Teller ins Auto, die für eine Volksküche gebraucht werden. Sie wenden sich ab und an dem Publikum zu und öffnen ihre Handtaschen. Else Spiller verkündet den Erfolg der nationalen Frauenspende. Diese Szene hat sich so nie zugetragen – in der Inszenierung dient sie als eines von vielen Bildern, um die Ereignisse rund um die Zeit des Landesstreiks zu veranschaulichen. «1918.CH» ist also kein Reenactment, da im Stück keine historischen Szenen nachgespielt werden. Vielmehr gehen die einzelnen Szenen von grossräumigen Bewegungsabläufen aus. Durch Körperimprovisationen unter der Leitung der Choreografin Gisa Frank fanden die SpielerInnen assoziativ passende Bewegungsbilder zu den historischen Texten und Figuren. Gesucht wurde nach grossen Bildern, war der Landesstreik mit 250 000 streikenden ArbeiterInnen doch eine Massenbewegung.
Diverse regionale Perspektiven
Die zwanzig Theatergruppen entscheiden unabhängig vom festen Ensemble, das für die Rahmenerzählung zuständig ist, über die Inszenierungsweise und die Geschichten, die sie nach Olten bringen: eben dezentral und mit einer eigenen Perspektive auf den Landesstreik. Heimberg und ihr Team griffen in die Beiträge nicht ein, lediglich deren Dauer wurde vorgegeben. Die Szenen der Kantone brechen in die Inszenierung ein, ähnlich wie der Streik in die damalige Zeit; aber eben nicht aus dem Nichts, sondern dort, wo sie assoziativ mit dem Geschehen verbunden sind.
Ein wirklich vergleichbares Vorbild habe es für eine solche Inszenierung nicht gegeben, erklärt Regisseurin Heimberg. Doch sie erzählt von anderen Laientheatern aus ländlichen Gebieten, die leider oft kaum beachtet würden. Einmal habe eine Gruppe im Wallis die Geschichte eines ganzen Dorfes zusammen mit den BewohnerInnen inszeniert. Am Schluss der Vorstellung sei das Stück fliessend in ein Tanzfest übergegangen. «Mich hat der Mut von Leuten inspiriert, die solche Dinge wagen.»
Vorstellungen vom 16. August bis 23. September 2018, werktags jeweils um 20 Uhr, sonntags jeweils um 17 Uhr. www.1918.ch
Der Landesstreik von 1918
Im November 1918, direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, traten 250 000 ArbeiterInnen in den ersten und einzigen landesweiten Generalstreik. In den Jahren davor hatte sich der soziale Graben zwischen den zunehmend verarmenden ArbeiterInnen und den ProfiteurInnen des Krieges verbreitert. Nahrungsmittel waren knapp, und die Löhne hielten mit der ständigen Teuerung nicht mit.
1917 hatten SP, Gewerkschaften und Konsumentenorganisationen das Oltener Aktionskomitee (OAK) gegründet. Mit SP-Nationalrat Robert Grimm an der Spitze entwickelte sich dieses zur Verhandlungsmacht gegenüber dem ausschliesslich bürgerlichen Bundesrat. Später umgesetzte sozialpolitische Reformen wie das Frauenstimmrecht, die Reduktion der Wochenarbeitszeit oder die AHV zählten zu den wichtigsten Forderungen des OAK. Die Armeeführung hatte ein hartes Vorgehen angeordnet; weil das OAK eine Eskalation befürchtete, beschloss es in der Nacht vom 13. auf den 14. November den Streikabbruch.