Kanton Bern: Mathematik mit Schnegg

Nr. 47 –

Ein Kanton räumt auf: Nur ja keinen Rappen zu viel für Menschen, die eh schon jeden zweimal umdrehen müssen. Und schon gar nicht für Institutionen, die sie unterstützen. Dafür aber Geschenke für Grossunternehmen.

  • Rotes Tuch «Entlastungspaket»: Die 155 Sparmassnahmen des Kantons Bern stossen auf Widerstand – wie hier an Fassaden von Schulen und anderen Bildungsinstitutionen. Fotos: Bildung Bern
Nina Ochsenbein, Beratungsstelle Infra

Auf den ersten Blick sah es nach einer harmlosen Nachricht aus, als Nina Ochsenbein am Montag, den 13. November, ihre Mailbox öffnete. Alles wie gehabt, dachte sich die Geschäftsleiterin der Frauenberatungsstelle Infra: die Bestätigung der jährlichen Leistungsvereinbarung. Wenige Zeilen später der Schock: Da teilt die Fürsorge- und Gesundheitsdirektion mit, dass die Leistungsvereinbarung – «wie Sie bereits postalisch erfahren haben sollten» – ab 2019 nicht mehr weitergeführt werde.

Infra Bern ist eine von vielen Institutionen, denen der Kanton die Subventionen kürzen oder gar streichen möchte. Am stärksten betroffen sind pflegebedürftige Menschen. Auch in der Behindertenbetreuung, der ambulanten Psychiatrie oder der Integration von Flüchtlingen soll abgebaut werden.

Seit der SVP-Politiker Pierre Alain Schnegg im Sommer 2016 Gesundheits- und Fürsorgedirektor wurde, weht ein noch kühlerer Wind durch die Landschaften. Kaum im Amt, kündigte der Wirtschaftsingenieur als schweizweit erster Regierungsrat an, den Mindestbetrag für Sozialhilfebedürftige um zehn Prozent zu kürzen, ohne diesen Plan danach in eine Vernehmlassung zu schicken (siehe WOZ Nr. 27/2017 ). Im Juni dann die Ankündigung weiterer Sparmassnahmen. Welche Angebote davon betroffen sein würden, wurde selbst den GrossrätInnen erst kurz vor der entscheidenden Novembersession vollumfänglich verraten. Sogar die Mitglieder der Finanzkommission wissen erst seit letztem Donnerstag, was alles unter der Bezeichnung «Nr. 44.7.7. (Kürzung von ca. 3,5 Prozent auf den Leistungsverträgen und Streichung von Kleinstbeiträgen)» unter den Hammer kommen soll – so nennt sich eine von 155 geplanten Massnahmen des sogenannten Entlastungspakets.

Sozialabbau im Eilverfahren

Geht es nach Schnegg, der aktives Mitglied der Freikirche Gemeinde für Christus ist, so sollen etwa die Beiträge an die Flüchtlingssozialdienste der Caritas und des Roten Kreuzes, an die Homosexuellen Arbeitsgruppen Bern und an Angebote des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks ebenso gekürzt werden wie jene für die Mütter- und Väterberatungsstelle und die Frühförderung von Vorschulkindern. Oder – wie bei der Infra – gleich ganz gestrichen werden.

Willkommen im Kanton Bern, wo das Parlament gerade zum 16. Mal seit den neunziger Jahren zu Sparvorlagen tagt. So viele schwerwiegende Entscheide auf einmal vorgelegt zu bekommen, sei aber eine Premiere, sagt Natalie Imboden, Grossrätin und Kopräsidentin der Grünen im Kanton Bern. «Monstersession», sagt sie.

«Entlastungspaket»? Ja, natürlich. Für Grossunternehmen. Denn gleichzeitig mit den effektiven Belastungen, die die Regierung der weniger privilegierten Bevölkerung aufbürden möchte, sollen Grossfirmen steuerlich entlastet werden. Die Sparmassnahmen von insgesamt 185 Millionen Franken begründet die Regierung mit einer prognostizierten Schuldenzunahme. Und schreibt unverblümt, Ziel dabei sei es auch, «die Finanzen der Steuergesetzreform 2019 sicherzustellen».

Kommenden Montag soll die Steuergesetzrevision in den Grossen Rat kommen, tags darauf das geballte Sparpaket und in der dritten Sessionswoche das Sozialhilfegesetz. Laut Imboden ist noch in dieser Session mit einem definitiven Entscheid bei den Sparmassnahmen zu rechnen. Ein Referendum gegen das «Entlastungspaket» ist nicht möglich, da im Kanton Bern das Instrument des Finanzreferendums fehlt. Bleiben noch die Referendumsmöglichkeiten gegen die Revisionen im Steuer- und im Sozialhilfegesetz, die wohl erst in der Märzsession zum Abschluss kommen werden.

Angesichts der bürgerlichen Mehrheit rechnet Imboden damit, dass das Sparpaket über weite Strecken angenommen wird. Chancen auf Retuschen sieht sie lediglich in Angeboten, die sich auf eine breite Lobby von Gemeinden verlassen können – etwa bei den Transporten von Schulkindern, zum Teil auch bei der Spitex. Auch im Bildungsbereich ist der Widerstand breit abgestützt: Seit Sessionsbeginn wehen rote Tücher an Schulhäusern im ganzen Kanton, mit denen LehrerInnen gegen den Abbau bei Fach- und Fachhochschulen, bei der Universität oder bei Brückenangeboten zum Einstieg in die Berufsbildung protestieren.

Privatisierung der Hilfe

Gesellschaftlich ebenso notwendige Angebote wie Infra Bern hingegen, die sich primär an Menschen richten, die keine Lobby haben, sind in ihrer Existenz bedroht. Ohne die Subventionen des Kantons kann die Beratungsstelle kaum weiter existieren.

1974 aus der Frauenbewegung hervorgegangen, bietet Infra weniger privilegierten Frauen Hilfe zur Selbsthilfe in rechtlichen und damit zusammenhängenden persönlichen Fragen an. Die kostenlosen Beratungen sind schon jetzt nur möglich, weil die zwanzig Anwältinnen und Juristinnen auf eine angemessene Bezahlung verzichten. Infra ist damit ein klassisches Beispiel für Leistungen, die der Staat an Dritte ausgelagert hat – an Fachleute notabene, die diese Aufgaben in Freiwilligenarbeit übernehmen. Bei einem normalen Anwaltstarif von 250 Franken pro Stunde würden die Beratungen jährlich knapp 100 000 Franken kosten. Stattdessen aber arbeitet Infra mit 42 000 Franken vom Kanton. Damit werden auch die Miete des Büros und der Beratungsräume im Zentrum 5, einem kirchlich subventionierten Integrationszentrum für MigrantInnen, sowie Bibliothek und Weiterbildungen finanziert.

Politik der Folgekosten

Wie gross das Bedürfnis nach einer solchen Beratung ist, zeigt sich darin, dass Sozialdienste aus dem ganzen Kanton ebenso wie Mitarbeitende von Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden sowie weiterer Ämter regelmässig Frauen an Infra weiterleiten. 2016 hat Infra 384 einstündige Beratungen und 178 Vermittlungen geleistet, die Termine sind oft Wochen im Voraus ausgebucht.

Und damit soll in einem Jahr Schluss sein? Ausgerechnet ein solches Angebot, das den Kanton für so wenig Geld um so viele Aufgaben erleichtert, soll weggespart werden? Obschon dieses doch eigentlich im Sinne einer Mathematik à la Schnegg sein sollte? Wohin denn sollen sich Frauen stattdessen wenden, die sich keine kostenpflichtige rechtliche Beratung leisten können? Regierungsrat Schnegg steht für eine Stellungnahme nicht zur Verfügung. Über seinen neuen Kommunikationsbeauftragten, den PR-Berater Gundekar Giebel, lässt er ausrichten: «Für die wenigen Fälle, die auf eine günstige Rechtsvertretung angewiesen sind, stehen die Rechtsauskunftsstelle des Bernischen Anwaltsverbands sowie die Rechtsberatung des Kantons zur Verfügung.»

Dazu sagt Nina Ochsenbein: «‹Hilfe zur Selbsthilfe› bedeutet auch die Vermeidung von weiteren Kosten. Indem wir den Frauen zum Beispiel bei der Ausarbeitung von Scheidungskonventionen helfen, erreichen wir, dass sie keine weiteren Anwaltskosten zahlen müssen, die dann der Staat übernehmen muss.» Hinzu komme, dass Infra gerade auch in den zunehmenden ausländerrechtlichen Fragen eine Lücke schliesse: «In Bern gibt es keine Rechtsberatungsstelle für Ausländerinnen – ausser für Sans-Papiers, Asylbewerberinnen und binationale Fragen.»

Nina Ochsenbein und ihre Kolleginnen geben nicht auf. Sie wollen Grossrätinnen kontaktieren und sich auf die Suche nach Fürsprecherinnen machen, die sich in Leserinnenbriefen für Infra einsetzen. Ochsenbein hofft, dass sich darunter auch die eine oder andere Mitarbeiterin einer kantonalen Behörde findet, die regelmässig Klientinnen an Infra weiterleitet.