Kost und Logis: Wohnen im Zug

Nr. 47 –

Bettina Dyttrich über alte Wartsäle und neue Apps

Die grosse Freiheit lag 1993 unter dem Weihnachtsbaum: ein GA. Jetzt konnte ich jederzeit in einen Zug steigen, und niemand wusste, wo ich war – die grosse Kontrollmaschine Handy war noch nicht verbreitet. Ich konnte nach Winterthur in den Plattenladen, nach St. Gallen an Demos, in den Voralpen herumstreunen. Und vor allem hatte ich ein Dach über dem Kopf, wenn das Wetter garstig war und ich trotzdem nicht nach Hause wollte. Dann setzte ich mich in einen Regionalzug oder einen Wartsaal und las Bücher. Es gab noch viele Wartsäle – manche elegant, manche mit abgewetzten Holzbänken. Melancholisches Fernweh lag über vielen Bahnhöfen und Zügen.

Am liebsten hatte ich die alten Wagen mit Sechserabteilen. Nach der «Stop F/A-18»-Demo im Frühsommer 1993 – noch ohne GA – quetschten wir uns etwa zu zehnt in ein solches Abteil, zogen die Sitze herunter und löschten das Licht. Einer hatte kein Billett und versteckte sich hinter und unter den anderen. Der Kondukteur merkte nichts. Mit meiner besten Freundin fuhr ich auch gern im Raucherabteil. Nicht um zu rauchen: Wir zündeten Räucherstäbchen an.

Aber Mitte der Neunziger begann der Umbruch. Immer mehr Bahnhofsgebäude wurden stillgelegt, die Wartsäle geschlossen. Zugige Unterstände aus Beton und Glas traten an ihre Stelle. Auch die Züge wurden modern. Nichts gegen die schnittigen Doppelstöcker – aber wie auf den Bahnhöfen ist alles hell, funktional und zugleich dreckiger als früher, weil beim Putzpersonal gespart wurde. Als Letztes verschwand kürzlich der schöne alte BLS-Zug durchs Emmental und Entlebuch. Und Räucherstäbchen anzünden kann man auch nirgends mehr.

Wer das alles sentimental und modernitätsfeindlich findet, hat wahrscheinlich recht. Aber nun zu einem ernsten Problem. Es hat mit der Kontrollmaschine Handy zu tun. Diesen Sommer haben SBB, BLS und Postauto AG einen Pilotversuch zu elektronischen Tickets gestartet. «Lezzgo» heisst die App, mit der man einfach losfahren und später bezahlen kann. Das bedingt aber natürlich, dass man auf dem Weg lückenlos überwacht wird. Dem Verein grundrechte.ch macht diese Entwicklung Sorgen: Was geschieht mit den Daten? Und vor allem: «Wir befürchten, dass mit der Einführung von elektronischen Ticketing-Systemen der Zugang zu Reisen mit dem öffentlichen Verkehr immer mehr an bestimmte Voraussetzungen gebunden wird – konkret an Computer mit Internetanschluss, Smartphones und Kreditkarten.»

Die Transportunternehmen haben den offenen Brief von grundrechte.ch inzwischen beantwortet. Auf die Datenschutzbedenken gehen sie kaum ein – aus Investitionsschutzgründen könne man auch den Quellcode der App nicht veröffentlichen. Aber immerhin versprechen sie, sich dafür einzusetzen, «dass der öffentliche Verkehr in der Schweiz weiterhin diskriminierungsfrei und voraussetzungslos nutzbar ist». Das ist notiert.

Bettina Dyttrich besitzt heute einen sogenannten Swiss Pass, dessen Mehrwert ihr weiter unklar bleibt.