Dokumentarfilm «No ho l’età»: Briefe aus der Emigration

Nr. 48 –

Es war ein Überraschungssieg: Am Concours Eurovision de la Chanson in Kopenhagen 1964 sang sich die gerade einmal sechzehnjährige Italienerin Gigliola Cinquetti mit ihrer braven Darbietung des Liedes «Non ho l’età (per amarti)» (Ich bin noch nicht alt genug (um dich zu lieben)) auf den ersten Platz. Sie wurde zum Star und erhielt bis Ende der siebziger Jahre über 140 000 Fanbriefe aus aller Welt.

Diese Briefe nimmt der Tessiner Regisseur Olmo Cerri nun zum Ausgangspunkt für seinen Dokumentarfilm «Non ho l’età». Allerdings steht nicht die Sängerin im Zentrum seines Films, sondern vier dieser Briefeschreibenden: Alle vier sind in die Schweiz migrierte ItalienerInnen. Carmela Schipani kam als Kind von GastarbeiterInnen mit elf Jahren illegal in die Schweiz. Sie versteckte sich drei Jahre in ihrem Zimmer und schrieb Cinquetti einen Brief, um ihr zu zeigen, wie sehr sie sie mochte. Maria Brasson wiederum bat Cinquetti um Rat beim Kauf einer Gelateria. Die verstorbene Mutter von Lorella Previelo erzählte Cinquetti von ihren drei Kindern und bat die Sängerin, ihr finanziell zu helfen, weil sie kein Geld für Heizöl habe und ihre Kinder in der kalten Schweizer Wohnung frören. Don Gregorio Montillo schliesslich bedankte sich als junger Theologiestudent bei der Sängerin für den Trost, «den Sie uns in unserer Emigration schenken». Ihr Lied schien einen Nerv getroffen zu haben, wie Montillo im Film erzählt: «Die Männer weinten, wenn sie das Lied fertig gesungen hatte, schlugen sich mit der Faust auf die Beine und sagten: ‹Verdammte Emigration!›»

Cerri lässt die Betroffenen von damals erzählen, begleitet sie in ihrem Alltag. Immer wieder dringt durch, wie einschneidend und endlos eine Migration ist. Die Biografien ergänzt er mit historischem Filmmaterial – Ausschnitte aus «Siamo Italiani» von Alexander J. Seiler oder Aufnahmen von James Schwarzenbach, der vor der «Überfremdung» warnt – und erinnert so eindrücklich an eine noch nicht lange zurückliegende Zeit, in der die ItalienerInnen als Arbeitskräfte ausgebeutet und als Menschen missachtet wurden.

Neu im Kino ab 30. November 2017.

No ho l’età. Regie: Olmo Cerri. Schweiz 2017