Gesundheits-Apps: Hüpfen und sich optimieren für Helsana

Nr. 48 –

Immer mehr Krankenkassen locken ihre KundInnen mit Apps, mit denen sie Punkte sammeln und Geld verdienen können. Unsere Autorin hat die von Helsana ausprobiert – und dabei ziemlich viele persönliche Daten preisgegeben.

Täglich 10 000 Schritte, Luftsprünge inbegriffen – damit hat unsere Reporterin schon vor dem Frühstück begonnen.

Freitagmorgen. Ich drapiere meine rechte Hand elegant vor dem Bauch. Das Bein winkle ich an, so, wie ich mir eine Ballettpose vorstelle. In der linken Hand halte ich das Smartphone und fotografiere mein Spiegelbild. Ein Tanzselfie für meine Krankenkasse: 300 Punkte.

Vor zwei Tagen habe ich die «Helsana+-App», «die App für die Pluspunkte in Ihrem Leben», auf mein Smartphone geladen. Als Erstes musste ich Name, Geschlecht und Versichertennummer angeben, dann akzeptierte ich die allgemeinen Geschäftsbedingungen. Damit ich die App voll nutzen kann, musste ich anschliessend Stück für Stück die Datenschutzwand einreissen, die ich mir in den letzten Jahren sorgfältig aufgebaut hatte. Pushnachrichten von «Helsana+»? Zugriff der App auf meine Kamera? Ja, bitte. Mit «Apple Health» verbinden, der Gesundheits-App, die auf dem iPhone standardmässig eingerichtet ist? Okay. Ortungsdienste ein? Na dann. Ich will ja Punkte sammeln und damit Geld verdienen.

Sportliche Aktivitäten geben Punkte, ebenso die Mitgliedschaft in einem gemeinnützigen Verein. Und ich kann an verschiedenen «Challenges» teilnehmen, dem «Tanz-Challenge» zum Beispiel. «Egal ob Hip-Hop, Walzer, Salsa oder Twerking – bei uns wird jedes Tanzfoto mit 300 Pluspunkten belohnt.» Entspannungskurse, Ernährungsberatung oder präventive Vorsorgeuntersuchungen, alles gibt Punkte. 25 Franken für 3000 Punkte, 50 Franken für 5000. Bis zu 30 000 Punkte kann ich sammeln und mir so jährlich 350 Franken von meiner Krankenkasse, bei der ich auch Zusatzversicherungen abgeschlossen habe, direkt auf mein Konto überweisen lassen, IBAN eingeben genügt.

Die ersten 2500 Punkte sind easy. «Willkommensbonus» 500, «Langjährige Treue» 1500, «Anbindung Gesundheitsapp» 500 Punkte. Meine Sammellust ist geweckt. Leider bin ich in keinem Verein aktiv, der sich mit Themen wie «Ausbildung, Familie, Gesundheit, Freizeitgestaltung, Arbeit mit Kindern, Kultur oder Natur» befasst. Doch bis Anfang des Jahres war ich als Studentin automatisch Mitglied im Akademischen Sportverein. Die abgelaufene Mitgliederkarte abfotografieren: 2000 Punkte.

Im Visier des Datenschützers

Ich bin jetzt schon auf Level 2. Auf jedem Level gibt es zusätzlich zum Bargeld «Partner-Angebote». Je höher das Level, desto günstiger werden Kompressionsstrümpfe, Pulsmessuhren, Medikamente, Brillen, Biolebensmittel, Zeitschriftenabos.

Mittwochabend. Zwischenstand nach Tag eins: 4500 Punkte, doch ich will mehr. Mein Ziel: 5000 Punkte, 50 Franken in einer Woche.

«Helsana+» hat den Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten auf den Plan gerufen. Er prüft zurzeit die App und kann anschliessend rechtlich verbindliche Empfehlungen abgeben. «Zur Bearbeitung sensibler Personendaten braucht es die ausdrückliche Einwilligung, die freiwillig und ohne (finanziellen) Druck erfolgen muss», steht in seinem neusten Jahresbericht. Bei freiwilligen Zusatzversicherungen seien Bonusangebote deshalb «denkbar», bei der obligatorischen Grundversicherung nicht. «Wir klären gerade ab, wie gut die Kundinnen und Kunden darüber informiert werden, was mit ihren Daten passiert», sagt Francis Meier, Informationsbeauftragter des Datenschützers. «Und ob wirklich von einer gültigen Zustimmung die Rede sein kann.»

Donnerstagmorgen. In einer Hand die Zahnbürste, in der anderen das Smartphone, hüpfe ich vor dem Waschbecken auf und ab. Heute ist Sport dran. Dafür musste ich «Helsana+» mit einer Gesundheits-App verknüpfen. Täglich 10 000 Schritte für 100 Punkte. Das ist viel, deshalb fange ich schon beim Zähneputzen an: 23 Schritte. Ab jetzt ist das Smartphone mein ständiger Begleiter. In der Küche ein Glas Wasser holen: 43 Schritte. Auf die Toilette gehen: 32 Schritte. Während der Sitzung mit dem Bein wippen: 15 Schritte. Als ich mein Telefon über Mittag am Arbeitsplatz liegen lasse, ärgere ich mich: 300 Schritte verloren.

Donnerstagabend. Nach einem Tag im Büro und einem Extraspaziergang durchs Quartier die Ernüchterung: 5509 Schritte. Viel zu wenig für die 100 Punkte in der Kategorie «Sport individuell». Zwischenstand nach Tag zwei: noch immer 4500 Punkte.

Die tägliche Selbstoptimierung

Freitagmittag. Der Tanz vor dem Spiegel hat sich gelohnt. Einige Stunden nachdem ich mein Selfie hochgeladen habe, kommt die Pushnachricht: «Ihr Nachweis für Tanz-Challenge wurde erfolgreich verifiziert.» 300 Punkte – und ein Strategiewechsel. Schrittezählen ist nicht effizient genug, der Fotobeweis verspricht mehr Punkte mit weniger Aufwand.

Freitagnachmittag. Ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause, die linke Hand am Lenker, in der rechten das Smartphone. 100 Punkte für ein Fahrradselfie.

Wer schaut sich eigentlich all die hochgeladenen Fotos an? Was passiert mit meinen Daten? Die Kundendienstmitarbeiterin ist am Telefon äusserst zuvorkommend. Die Daten würden nur für statistische Zwecke verwendet – und um die App weiterzuentwickeln. Gesundheitsdaten von Fitness-Apps würden gar nicht erst bei Helsana gespeichert. Ein «spezialisiertes Team» kontrolliere die Bilder. «Die App soll einfach einen gesunden Lebensstil fördern.»

Sie fördert auch die ständige Selbstbeobachtung. Die Schriftstellerin Juli Zeh warnte schon früh vor der totalen Überwachung – auch in Form alltäglicher Vermessung des eigenen Körpers. In einem Interview mit der «Süddeutschen Zeitung» sagte sie vor drei Jahren: «Wir folgen derzeit dem Irrglauben, unser Schicksal, sprich unsere Zukunft, beherrschen zu können, indem wir ständig alles ‹richtig› machen und uns unentwegt selbst optimieren – auf der Arbeit, bei Gesundheit und Ernährung, selbst bei Liebe und Sex. Alles ist Leistungssport. Wir glauben, dadurch Kontrolle über unser Leben zu gewinnen. In Wahrheit werden wir manipulierbar und unfrei.» Zeh warnt davor, dass die Interessen von privaten Konzernen – also auch von Krankenversicherern – verschleiert würden als Serviceversprechen und individueller Vorteil für jede einzelne Person.

Rabatte für einen gesunden Lebensstil sind in der Grundversicherung nicht erlaubt. Das Solidaritätsprinzip soll nicht ausgehöhlt werden: Die Jungen und Gesunden zahlen gleich viel wie die Alten und Kranken. Und die Prämienhöhe hängt nicht davon ab, ob jemand Sport treibt oder raucht.

Die drei anderen Schweizer Krankenkassen, die Bonus-Apps anbieten, zielen wohl deshalb nur auf Zusatzversicherte ab. Einzig Helsana ködert auch Grundversicherte. «Wir wollten ein Bonusprogramm, das allen Versicherten potenziell zugutekommt», sagt Helsana-Mediensprecherin Dragana Glavic. Das Sammellimit für Grundversicherte liegt bei 7500 Punkten, höchstens 50 Franken also. Glavic betont, dass auch der 50-Franken-Bonus durch das Marketingbudget der Helsana Zusatzversicherungen AG getragen werde.

Trotzdem: Es scheint gut möglich, dass nicht nur der Datenschützer, sondern auch der Bund Helsana schon bald zurückpfeift. Ob deren Bonusprogramm für Grundversicherte zulässig ist, klärt nämlich derzeit das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ab. Krankenkassen dürfen nur Prämien anwenden, die vom BAG genehmigt wurden. «Bisher haben wir kein grünes Licht für das Programm gegeben», sagt Mediensprecher Andrea Arcidiacono.

Personalisierte Werbung

Samstagmorgen. Ich sitze auf der Yogamatte im Schneidersitz, gefaltete Hände mit Smartphone. Ein Yogaselfie. Vorerst keine 100 Punkte – das Verifizieren dauert diesmal länger. Offenbar haben die «SpezialistInnen» am Wochenende frei.

Sonntagabend. Zwischenstand nach Tag fünf: 4900 Punkte. Nur noch 100 Punkte bis zu den 50 Franken. Ich scrolle noch einmal durch die App. «Helsana+ belohnt die Teilnahme an Entspannungskursen.» Vor einigen Monaten war ich mal in der Akupunktur. Ich suche die Rechnung, fotografiere sie.

Montagmorgen. Die Woche beginnt mit 100 Punkten für Yoga und 1500 für Entspannung. Die Akupunktur hat sich gelohnt. Zwischenstand nach Tag sechs, ohne dass ich mich heute angestrengt hätte: 6500 Punkte. Ziel mehr als erreicht! Ich gebe meine IBAN ein – «Sehr geehrte Frau Cassani. Herzliche Gratulation! Diese Belohnung haben Sie sich redlich verdient.»

Wer «Helsana+» nutzt, gibt viel von sich preis. Die Krankenkasse speichert zwar keine sensiblen Daten aus den Fitness-Apps. Dafür aber, wie lange und wie oft eine Kundin die App nutzt oder welche Informationen ein Versicherter abruft. Um das «Nutzerpotenzial» besser analysieren zu können, behält sie sich vor, diese Daten mit anderen statistischen Daten zu verknüpfen.

Werden die gesammelten Daten für Werbung verwendet? Die zuvorkommende Mitarbeiterin vom Kundendienst fragt zur Sicherheit bei der zuständigen Stelle nach: Nein, keine Werbung. Auf der Website des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten heisst es, man könne jederzeit Widerspruch dagegen einlegen, dass die eigenen Daten zu Werbezwecken verwendet würden. Widersprechen sei aber nicht nötig, sagt die Kundenberaterin, die Daten würden ja eben gar nicht für Werbung genutzt.

Ziemlich weit unten in den allgemeinen Geschäftsbedingungen ist dann aber doch zu lesen, dass die Krankenkasse die Daten für die «Zusendung individualisierter und personalisierter Werbung» bearbeiten kann. Dragana Glavic sagt dazu: «Zu einem einzelnen Gespräch mit dem Kundendienst können wir schwer Stellung nehmen. Wir bedauern, wenn man Ihnen nicht weiterhelfen konnte, und nehmen dies zur Anregung, unsere Mitarbeitenden diesbezüglich nochmals zu schulen. Selbstverständlich haben Nutzer das Recht, jederzeit der Verwendung ihrer Daten zu Werbezwecken zu widersprechen.» Glavic sagt auch, dass die App viel genutzt werde: «Anfragen zum Thema Datenschutz erhalten wir aber nur ganz wenige.»

Dienstagmorgen. 1500 Punkte sind noch übrig. Ich lösche «Helsana+». Die App ist weg, meine Daten sind es aber noch lange nicht. Meine Nachweise bleiben so lange im System gespeichert, wie die Punkte gültig sind, 24 Monate maximal. Sofort löschen? Das gehe leider nicht, hat man mir am Telefon mitgeteilt. Im Kleingedruckten steht: Gesuche «um Auskunft, Berichtigung oder Löschung der Nutzerdaten sind schriftlich unter Beilage eines unterzeichneten Begehrens sowie einer Kopie des Passes» an Helsana zu schicken. Der Brief ist abgeschickt. Mit den 50 Franken gönne ich mir mindestens eine schön fettige Portion Pommes.

Nachtrag vom 3. Mai 2018 : «Helsana +»-App für rechtswidrig erklärt

Um ihre KundInnen zu einem gesunden Lebensstil zu animieren, bieten immer mehr Krankenkassen eigene Apps an. Eine davon ist «Helsana +», mit der sich die Versicherten mittels Punktesystem Geldprämien gutschreiben lassen können. Die App greift auf zahlreiche Funktionen des Smartphones der NutzerInnen zu. Im Oktober 2017 begann sich der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte mit der App zu beschäftigen. In einer abschliessenden Empfehlung hält dieser nun fest, dass die Prämienrückerstattung mittels «Helsana +» rechtswidrig sei.

Konkret geht es dabei um die Daten von KundInnen, die bei der Helsana ausschliesslich über eine Grundversicherung verfügen. Für eine Rückerstattung der Prämien der Grundversicherung fehle eine gesetzliche Grundlage, diese Rückerstattung sei daher nicht zulässig. Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte empfiehlt deshalb, das Sammeln und Bearbeiten der Daten von ausschliesslich grundversicherten KundInnen zu unterlassen.

Der Helsana bleiben nun dreissig Tage Zeit, um dem Datenschutzbeauftragten mitzuteilen, ob sie die Empfehlung annimmt. In einer Mitteilung gab die Krankenkasse bereits bekannt, dass sie die Rechtsauffassung des Datenschützers nicht teile und daher seine Empfehlungen ablehne. Vermutlich wird sich also bald das Bundesverwaltungsgericht mit «Helsana +» beschäftigen müssen.

Martin Germann