TV-Serie «The Deuce»: Es wuchert im Milieu-Mikrokosmos
Jenseits von Moral und Mitleid: Gegen die grelle Eindeutigkeit wirft die neue Serie von David Simon («The Wire») einen differenzierten Blick auf die Sexindustrie im New York der siebziger Jahre.
«Es stagniert hier unten. Wir müssen wieder mehr Bewegung in die Gegend bringen!» Das sagt kein eifriger Stadtentwickler zum abgehängten «Problemquartier», sondern ein lokaler Mafiaboss, der in «seinem» New Yorker Rotlichtviertel brachliegendes Profitpotenzial ortet. Willkommen in «The Deuce», dem neusten Werk des US-Serienveterans David Simon, das uns in die nächtige und mächtige Welt der Prostituierten, Zuhälter, Freier, Cops, Barkeeper und Mafiosi mitnimmt, die Anfang der siebziger Jahre in der 42. Strasse von New York mal freundlich oder gleichgültig, mal gierig, geil und gewaltsam aufeinandertreffen.
Seit seinem legendären Epos «The Wire», diesem virtuosen Panorama der Drogenhochburg Baltimore mit ihren ineinandergreifenden Problemzonen, erzählte der ehemalige Polizeireporter Simon wiederholt sauber recherchierte Geschichten aus neuralgischen urbanen Revieren. Nun hat sich der Experte für die «dunklen Winkel des amerikanischen Experiments», wie ihn die Filmtheoretikerin Linda Williams nennt, den historischen Moment vorgenommen, kurz bevor der erste massentaugliche Pornofilm, «Deep Throat», die Kinokassen klingeln liess.
Von Schablonen zu Menschen
Im farbigen Widerschein der Lichtreklamen von Times Square, Kinos, Bars und Stundenhotels kreuzen sich Nacht für Nacht die Wege der halbseidenen Gesellschaft. Wir sind weit jenseits der bürgerlichen Komfortzone, aber doch gut gepolstert dank modischer Extravaganzen und eines famosen Soundtracks. Nostalgische Gefühle, die deswegen aufkommen könnten, werden allerdings gleich wieder gebrochen durch die kantigen Charaktere, die Simon und sein Ko-Creator George P. Pelecanos auftreten lassen. Es sind vielschichtige, letztlich undurchschaubare Subjekte, die nicht in gängige Raster wie Opfer oder HeldIn, Bösewicht oder Lichtgestalt passen: Figuren, die ausscheren und ein unangenehm aufsässiges Eigenleben entwickeln. Die Losung ist klar: Um den Mikrokosmos von «The Deuce» zu begreifen, muss man auch den brutalen Zuhälter verstehen – und dafür muss dieser von der Schablone zum Mensch werden. Dies macht ihn am Ende nicht weniger abstossend, im Gegenteil.
Das Herz der kontrolliert wuchernden und auf viele Haupt- und Nebenfiguren aufgefächerten Geschichte ist die etwas ältere Prostituierte Candy (überragend: Maggie Gyllenhaal). Candy arbeitet ohne Zuhälter – «der einzige Mensch, der mit meiner Pussy Geld verdient, bin ich» –, unterstützt so auch ihren Sohn, der bei ihrer Mutter aufwächst. Tagsüber versucht sie, im aufkommenden Pornofilmbusiness Fuss zu fassen. «The Deuce» macht sich Candys lebensklugen und unsentimentalen Blick auf die (Rotlicht-)Welt zu eigen. Doch wird ihre Perspektive auch gleich wieder erweitert: durch die junge schwarze Prostituierte, die anfängt, Charles Dickens zu lesen; die Studentin aus reichem Haus, die von der rauen Gegenwelt angezogen wird und trotzdem nie richtig dazugehört; den geschäftstüchtigen Neuzuzug aus der Provinz; den schwulen Barkeeper im Windschatten der «Stonewall»-Aufstände; den Polizisten, der versucht, seinen aussichtslosen Job irgendwie fair zu machen; und die Journalistin, die in einer Recherche die Korruptionslinien zwischen Polizei und Milieu blosslegen will, von ihrem Chefredaktor aber auf eine rührselige Sozialreportage zurückgestutzt wird.
Nichts wird beschönigt
Und plötzlich wird man als Zuschauerin gewahr, wie einfältig eindeutig man selbst sich die Dinge zurechtlegt – in der Realität wie in der Fiktion. Wie oft man Schwarzweissmustern anhängt, die vorgeben, Prostitution sei zwingend böse und ausbeuterisch oder Machtgefälle seien stets eindeutig zu decodieren. Doch statt solche Aussichtslosigkeit zu zementieren, lotet «The Deuce» Handlungsspielräume und widerständige Strategien aus – ohne dabei jedoch die inhärente Brutalität der Verhältnisse, die Frauenverachtung und andere Ungerechtigkeiten zu beschönigen.
Die schwächste Figur von «The Deuce» ist ein männliches Doppelgängerpaar, gespielt vom bekanntesten Star der Show, James Franco. Er gibt Zwillingsbrüder, den verschämten Barkeeper Vincent und den unverschämten Tunichtgut Frankie. Was die beiden trennt, sind ihre Ansprüche: Der eine möchte trotz mafiöser Verstrickungen anständig bleiben, der andere will lieber unanständig viel Geld verdienen. Doch letztlich verweist sogar diese relativ simple Aufspaltung auf etwas Komplizierteres: auf schlecht kaschierte männliche Identitätskrisen inmitten dieser testosteronschweren Zuhälterwelt, die sich am Ende meist nur mit Gewalt zu helfen weiss.
Klar feministische Schlagseite
Überhaupt hat «The Deuce» eine klar feministische Schlagseite. Nicht nur fürs Drehbuch, sondern auch für die Regie wurden mehrere Frauen engagiert, von der Krimiautorin Megan Abbott bis zur Regisseurin Uta Briesewitz. Gyllenhaal, die auch als Koproduzentin auftritt, hat sich ein Vetorecht ausbedungen, falls ihr eine Szene zu pornografisch erscheinen sollte. Das hat nicht zuletzt zur Folge, dass die Kamera nie voyeuristisch auf den routiniert arbeitenden Prostituierten verweilt, sondern auf die nackten Körper der «Johns» schwenkt, wie die Freier auf Amerikanisch weniger beschönigend heissen.
Dazu kommt eine entscheidende weitere Dimension, die schon Simons frühere Werke ausgezeichnet hat: das Heranzoomen an eine konkrete politisch-ökonomische Konstellation mit all ihren anstrengenden, letztlich unauflösbaren Widersprüchen. In «The Wire» war es der zeitgenössische Neoliberalismus durch die Brenngläser von Drogenhandel, Rassismus und Armut; in «Treme» Wiederaufbau und Gentrifizierung von New Orleans nach den Verwüstungen durch den Hurrikan Katrina; in «Show Me a Hero» die Dilemmas eines Lokalpolitikers. In «The Deuce» verschränkt sich nun die Lockerung der New Yorker «Obszönitätsgesetze» mit der polizeilichen «Säuberung» der Strassen und dem Versuch, Schutzgeldzahlungen einzudämmen.
Dies führt zum Umzug des Sexgewerbes in behelfsmässig aus dem Boden gestampfte Bordelle und Pornofilmkabinen, die sich als wahre Goldgruben erweisen. Alle wollen weiter an den Körpern der Prostituierten verdienen. Die Frauen werden sich ihrer ökonomischen Schlüsselstellung aber auch bewusst und bleiben hartnäckig an der Verwertung der eigenen Arbeit dran – wider die Zuhälterlogik. Ermächtigung bedeutet immer auch Kontrolle der Produktionsmittel, zumal es sich hier um den eigenen Körper handelt.
Schuftende Körper, gierige Blicke
Die vom Mafiaboss gewünschte profitgetriebene Bewegung im Quartier bedeutet auch eine immer weitere Automatisierung. Diese spielt in einer noch komplett analogen Welt der münzenbetriebenen Maschinen, seien das nun Jukeboxes, Zigarettenautomaten oder eben die sehr lukrativen Pornofilmkästen – wobei sich im Vergleich zur Strassenprostitution die hart arbeitenden Körper, gierigen Blicke und Machtkämpfe um Gesetze, Besitzverhältnisse und Auswertungen im Pornofilmbusiness nochmals ganz neu sortieren.
Hier wird also nichts banalisiert. Jenseits von Mitleid und Moral wagt «The Deuce» die konkrete Analyse einer konkreten historischen Situation mit den Mitteln der Fiktion – egal ob es nun um den Richter geht, der einen nüchternen juristischen Umgang mit Pornos finden muss, um die Pornodarstellerin als Star im neuen «Masturbatorium» oder um den Zuhälter, der im Bordell und auf dem Filmset überflüssig wird. Das ist, wenn man so will, die subversive Flaschenpost, die «The Deuce» aus den siebziger Jahren in die Gegenwart schickt: Man kann marktschreierischen VereinfacherInnen jeglicher Couleur nur mit dem Bekenntnis zu Ambivalenz und komplexen Geschichten die Stirn bieten.
«The Deuce». Regie: David Simon und George P. Pelecanos. USA 2017. Auf Deutsch zum Beispiel auf Sky oder Google Play.