Vattenfall-Anwalt Kaj Hobér: «Viele Politiker verstanden nicht, was sie unterzeichnen»
Kaj Hobér ist Anwalt des globalen Energiegiganten Vattenfall, der Deutschland wegen des Atomausstiegs vor einem internationalen Schiedsgericht auf Milliarden verklagt hat. Ein Gespräch über ein Leben im Dienst von Grosskonzernen, deren Macht und den Aufstand gegen die Globalisierung.
10. Oktober 2016: An der 18th Street Northwest in Washington, einem Glasgebäude unweit des Weissen Hauses, treffen sich VertreterInnen der deutschen Regierung mit Leuten des Energiekonzerns Vattenfall. Angeführt werden Letztere von Anwalt Kaj Hobér. Das Ganze wird per Video im Internet übertragen. Es ist der Auftakt einer Gerichtsverhandlung, die seit 2012 in Deutschland ungeduldig erwartet wird: Damals gab der schwedische Konzern bekannt, Deutschland wegen des beschlossenen Atomausstiegs zu verklagen, der auch für zwei eigene Meiler das Aus bedeutete. Klagesumme: 4,7 Milliarden Euro. Laut Hobér soll das Urteil Anfang nächsten Jahres fallen.
Die rechtliche Basis der Klage liefert der Energiecharta-Vertrag von 1994, der von 52 Staaten und der EU unterzeichnet wurde. Er gibt einem in einem Unterzeichnerstaat ansässigen Konzern die Möglichkeit, einen anderen Mitgliedstaat zu verklagen, falls er der Meinung ist, dass der Staat ihn «direkt» oder «indirekt» enteignet hat – oder er nicht «gerecht und billig» behandelt wurde. Die Anzahl Verträge, die Investorenklagen vorsehen, ist seit den neunziger Jahren von ein paar wenigen auf heute gut 3300 explodiert. Explodiert ist in den letzten Jahren auch die Zahl der Klagen. Inzwischen summieren sie sich auf rund 800. Geklagt wird vor allem gegen Entwicklungsländer.
Hintergrund ist die Globalisierung des Kapitals, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs voranschreitet (vgl. Grafik): Seit 1990 ist die Summe der Direktinvestitionen, die Konzerne in anderen Ländern halten, von 2000 auf 26 000 Milliarden US-Dollar geklettert.
Die meisten Klagen werden wie diejenige von Vattenfall am International Center for Settlement of Investment Disputes (ICSID) in Washington verhandelt. Das ICSID ist kein normales Gericht: Über die Klagen urteilen drei JuristInnen, die von den Streitparteien ernannt werden. Meistens sind es AnwältInnen globaler Kanzleien, die in anderen Fällen Staaten oder Konzerne vertreten. Das ICSID kennt keine Berufungsinstanz, die Verhandlungen sind in der Regel geheim. Am Ende erfahren die SteuerzahlerInnen des verklagten Staats lediglich, ob sie zahlen müssen.
Mit der Zahl der Klagen wächst auch der Protest. Letzten Herbst gingen in Deutschland Hunderttausende auf die Strasse, um gegen geplante Freihandelsabkommen wie das TTIP oder das Ceta zu demonstrieren, die Investorklagen vorsehen. Tatsächlich geht es hier um eine der entscheidendsten Fragen des 21. Jahrhunderts: Sollen Demokratien weiterhin Entscheide treffen können, die den Interessen der Konzerne zuwiderlaufen? Oder sollen Konzerne die Macht haben, solche Entscheide umzustürzen?
Als die WOZ kürzlich anhand des Vattenfall-Prozesses über Investorenklagen schrieb (siehe WOZ Nr. 32/2017 ), lehnte Vattenfall ein Gespräch ab. Nach Publikation des Artikels meldete sich Anwalt Hobér und monierte den kritischen Ton des Artikels. Auf Nachfrage willigte Hobér in ein Gespräch ein, unter der Bedingung, nicht im Detail über die Vattenfall-Klage zu reden, sondern nur über Investorenklagen allgemein. Der 65-jährige Schwede ist auch Rechtsprofessor an der Universität von Uppsala. Das Interview fand im Luxushotel Four Seasons in Mailand statt.
WOZ: Herr Hobér, Sie haben einmal erzählt, dass Sie Anfang der siebziger Jahre als neunzehnjähriger Student Touristen durch die Sowjetunion geführt hatten. Waren Sie wie viele damals Kommunist?
Kaj Hobér: Nein. Ich wurde in der schwedischen Armee in Russisch trainiert, um im Kriegsfall russische Gefangene zu verhören. Ich war also sicher kein Befürworter des Sowjetsystems. Die Reisen dorthin stärkten eher meine Überzeugung, dass die Planwirtschaft nicht funktioniert. Fünf Sommer lang führte ich skandinavische Touristen mit dem Bus nach Leningrad, dem heutigen St. Petersburg. Das Ziel war, mein Russisch zu verbessern und Geld für das Jurastudium zu verdienen.
Auch nach dem Studium blieben Sie eng mit Russland verbunden …
Ja, ab Anfang der achtziger Jahre arbeitete ich für die US-Kanzlei White & Case in Stockholm. Ich vertrat sowjetische Handelsorganisationen in Schiedsverfahren gegen westliche Firmen.
Sie vertraten mitten im Kalten Krieg im Dienst einer US-Kanzlei die Interessen der sowjetischen Wirtschaft?
Ja. 1985 erlaubte dann der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow erstmals Joint Ventures, nun konnten ausländische Investoren in der Sowjetunion investieren. Ich begann, westliche Firmen zu vertreten, die dort investieren wollten.
Was waren das für Firmen?
Kleinere Firmen wie Restaurants und Hotels. Die grossen Firmen kamen erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989, als Russland seine staatliche Wirtschaft privatisierte.
Sie waren an der Privatisierung massgeblich beteiligt?
Ja, White & Case setzte zusammen mit den russischen Behörden die Privatisierung um. Ich war damals einer der wenigen westlichen Anwälte, die Russlands Rechtssystem kannten und Russisch sprachen. Wir waren eine kleine Gruppe von westlichen Juristen, Bankern und Finanzspezialisten, die das neue System entwarfen. Mein Job bestand darin, das Wirtschaftsrecht zu schreiben.
Die Privatisierung unter Präsident Boris Jelzin gilt allerdings als misslungen: Sie war überstürzt, intransparent und verhalf korrupten Oligarchen zum Aufstieg.
Aus meiner Sicht waren die Privatisierungsschritte bis 1995 mehr oder weniger in Ordnung. Wenn Sie von Rechts- auf Linksverkehr wechseln, können Sie das nicht allmählich tun. Sie müssen es über Nacht tun. Allerdings wandte ich damals ein, dass vor der Privatisierung die rechtliche Infrastruktur bereitstehen müsse. Jelzin wollte aber nicht warten, er fürchtete sich vor einem Gegenschlag der Kommunisten. Darum geschah alles überstürzt. Zudem verpasste es die Regierung, der Bevölkerung gut genug zu erklären, wie man die Anteilscheine nutzt, die alle erhielten, um sich an Betrieben zu beteiligen. Der grosse Fehler erfolgte jedoch 1995, als Oligarchen erlaubt wurde, Öl- und Gasfirmen aufzukaufen – da war ich nicht mehr dabei.
Sie arbeiten nun seit Jahrzehnten als Anwalt und Richter in internationalen Investitionsstreitverfahren wie derzeit im Dienst von Vattenfall. Wie kam es dazu?
Als Gorbatschow 1985 Joint Ventures erlaubte, erklärte ich den russischen Politikern, dass sie Investitionsschutzabkommen benötigten, um Investoren anzulocken. Nach einigem Zögern handelte die Sowjetunion entsprechende Verträge aus, später auch Russland. Bei der Aushandlung beriet ich westliche Regierungen. 1994 vertrat ich dann in einer der ersten Klagen auf der Grundlage eines solchen Abkommens den deutschen Unternehmer Franz Sedelmayer gegen Russland, der im früheren Leningrad eine Firma besessen hatte, die unter anderem gepanzerte Fahrzeuge hergestellt hatte. Die Regierung hatte ihm sein Firmengebäude weggenommen, wo er mit Frau und Kind wohnte. Seither war ich in unzählige Fälle involviert: Ich habe US-Ölfirmen gegen den Iran und Kasachstan vertreten. Umgekehrt habe ich Kasachstan und andere Staaten gegen Investoren verteidigt. Ich war ab 2005 auch am Fall des Öl- und Gaskonzerns Yukos beteiligt, in dem der ehemalige Eigentümer Michail Chodorkowski gegen Russland wegen Zerschlagung der Firma geklagt hatte. Ich vertrat kleinere Aktionäre.
Und Sie haben damals Wladimir Putins Dissertation übersetzt …
Richtig, als ich mit Chodorkowski in Moskau am Prozess arbeitete, fanden wir heraus, dass Putin 1996 – als er noch Kommunalpolitiker war – eine Dissertation geschrieben hatte, in der er bereits für die staatliche Kontrolle natürlicher Ressourcen wie Öl plädiert hatte. Wir nutzten die Schrift im Prozess. Als sich im Westen viele für die Arbeit interessierten, schrieb ich Putin und fragte ihn, ob ich sie übersetzen könne. Acht Tage später antwortete mir sein Sprecher, dass der Präsident geehrt sei und ich loslegen könne.
Warum braucht es Abkommen, die es Konzernen wie Vattenfall ermöglichen, Staaten zu verklagen?
Das müssen Sie die Repräsentanten der Staaten fragen, die die Abkommen unterzeichnet haben. Sie tun dies unter anderem, weil sie glauben, dass sie damit Investitionen anziehen. Unterzeichnen sie die Abkommen, sind sie aber gemäss Völkerrecht an sie gebunden. Sie können sie nicht ausser Kraft setzen, indem sie sich auf nationales Recht berufen: Jeder noch so demokratische Entscheid eines Parlaments kann internationale Verpflichtungen verletzen.
Das war ein Kernpunkt in Ihrem Plädoyer im Vattenfall-Prozess. Aber nochmals: Finden Sie die Abkommen auch gut?
Das müssen die einzelnen Länder entscheiden. Da es rund 3000 solche Verträge gibt, denken die Länder offenbar, dass sie nützlich sind.
Sie wollen Ihre Meinung nicht sagen …
Nein, ich habe keine persönliche Meinung. Nicht nur die Staaten scheinen die Abkommen jedoch nützlich zu finden: Viele Firmen, mit denen ich rede, erkundigen sich nach solchen Abkommen, bevor sie in einem Land investieren. Einem Investor zu sagen, er solle an das Gericht eines Staats gelangen, der ihn enteignet hat, ist kein überzeugender Vorschlag.
Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, dass Länder mit solchen Abkommen mehr Investitionen anziehen.
Ja, das stimmt.
Die Abkommen sind eine Gefahr für die Demokratie: Der Staat darf kaum noch etwas entscheiden, was den Interessen der Konzerne zuwiderläuft.
Es liegt in der Souveränität der Staaten zu entscheiden, ob sie die Abkommen unterzeichnen. Sie werden nicht dazu gezwungen.
Eine Demokratie kann sich auch auf demokratischem Weg selber abschaffen.
Warum ist es ein Demokratieproblem, wenn eine Regierung beschliesst, gewisse Dinge nicht mehr zu tun? Das liegt in der Natur des Völkerrechts.
Vor allem die älteren Abkommen gehen sehr weit und formulieren den Investitionsschutz äusserst vage: Was bedeutet eine «gerechte und billige Behandlung» von Investoren? Regierungen können kaum noch etwas tun, ohne eine Klage zu riskieren.
Ja, aber es ist die Aufgabe der Regierungen, genau zu prüfen, was sie da unterzeichnen. Und sie müssen den Mut haben, einer Firma, die mit einer Klage droht, zu widersprechen und, falls nötig, vor ein Schiedsgericht zu gehen.
Viele Entwicklungsländer können nicht riskieren, zu einer Milliardenzahlung verurteilt zu werden.
Es ist das Problem der Regierungen, wenn sie Abkommen unterzeichnen, ohne darauf zu beharren, dass das Prinzip der gerechten und billigen Behandlung oder der indirekten Enteignung genau definiert wird, wie das etwa die USA seit einiger Zeit tun. Man kann sich nicht im Nachhinein darüber beklagen. Das Problem ist, dass viele dieser Abkommen von Politikern unterzeichnet wurden, die nicht verstanden, was sie da unterzeichnen.
Wie bitte?
Ja natürlich. Das war zumindest bis vor rund fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahren so. Heute sind die Regierungen wachsamer. Das Prinzip der gerechten und billigen Behandlung wird heute in den meisten Verträgen viel genauer umrissen. Allerdings wird es nie möglich sein, ganz genau zu definieren, wann das Prinzip verletzt wird. Das liegt in der Natur des Rechts: Die einzelnen Fälle sind sehr spezifisch. Ein Teil wird immer im Ermessen der Schiedsrichter bleiben.
Hätten Sie als Regierungsvertreter die Abkommen der neunziger Jahre unterzeichnet?
(Überlegt.) Wahrscheinlich ja, aber ich hätte mich dafür eingesetzt, dass die darin enthaltenen Schutzbestimmungen genauer definiert werden. Was ist eine gerechte und billige Behandlung? Was eine indirekte Enteignung?
Als Argentinien Anfang der nuller Jahre in eine tiefe Wirtschaftskrise geriet, fixierte es die Tarife öffentlicher Dienste, die in der Hand ausländischer Investoren lagen, in Peso und entwertete die Währung. Dafür haben diese den Staat Dutzende Male verklagt. Finden Sie das richtig?
Sie simplifizieren. Die Massnahmen der Regierung haben die Investoren in unterschiedlicher Weise getroffen. Man muss die Fälle einzeln beurteilen, man kann keine generellen Schlüsse ziehen. In einigen dieser Fälle hat Argentinien mit dem sogenannten Zustand der Notwendigkeit argumentiert, der Staaten in Krisensituationen von gewissen Verpflichtungen entbindet. Zumindest in einem Fall gewann Argentinien damit – in anderen verlor es.
Hatten Sie nie moralische Bedenken, Grosskonzerne unter anderem gegen kleine, ärmere Länder zu vertreten?
Ich weiss nicht, an was Sie genau denken. Ich nehme keine ideologische Sicht ein. Einige meiner Kollegen tun dies, die meisten nicht – wir sind Anwälte. Allerdings arbeite ich nicht für Firmen, die unmoralisch handeln. Es gibt Fälle, in denen ich eine Anfrage nicht angenommen oder sogar ein Mandat für eine Firma niedergelegt habe.
Was ist für Sie unmoralisch?
Kriminelle Handlungen: Sklaverei, Kinderarbeit, Menschenrechtsverletzungen, Steuerflucht.
Sonst haben Sie keine weiteren Kriterien?
Nein. Wenn ein Anwalt einen Mörder verteidigt, bedeutet das nicht, dass er mit ihm sympathisiert. Als Strafverteidiger würde ich auch einen Mörder verteidigen. Das ist mein Job, meine Pflicht als Rechtsanwalt.
Es wird kritisiert, dass Investitionsschutzverträge eine Einbahnstrasse sind: Konzerne können Staaten verklagen, doch es ist nicht möglich, dass Menschenrechtsgruppen Konzerne verklagen …
Ich bin nicht dagegen, Menschenrechte vertraglich zu sichern, aber das muss in anderen Verträgen erfolgen. Investitionsschutzabkommen sind da, um ausländische Investitionen zu schützen. Wenn sich ein Konzern im Gastland nicht ans Recht hält, ist es am entsprechenden Staat oder an dortigen Menschenrechtsgruppen, diesen vor ein nationales Gericht zu ziehen.
Sie sagten, Konzerne wollten nicht vor dem Gericht eines Staats klagen, der sie enteignet hat. Lokale NGOs haben oft noch viel mehr Mühe, Konzerne, die mit korrupten Regierungen verbandelt sind, vor Ort zur Rechenschaft zu ziehen.
Wenn etwa ein Schweizer Konzern in anderen Ländern Menschenrechtsverletzungen begeht, wäre es richtig, das Schweizer Recht so zu reformieren – falls das nicht schon der Fall ist –, dass man den Konzern dafür vor Schweizer Gerichte ziehen könnte.
Genau das fordert in der Schweiz die aktuelle Konzernverantwortungsinitiative. Wie viele in Ihrem Berufszweig vertreten Sie Staaten wie auch Konzerne und sind auch noch Richter. Damit verstricken Sie sich zwangsläufig in Interessenkonflikte.
Nein, wo liegt das Problem? Als Anwalt tue ich, was ich kann, um die Interessen meines Mandanten zu verteidigen – egal was meine persönlichen Ansichten sind. Am nächsten Tag bin ich in einem anderen Fall Richter und fälle ein Urteil aufgrund der mir vorliegenden Fakten. Dafür wurde ich ausgebildet.
Ihre wirtschaftlichen Interessenbeziehungen zu Konzernen können Sie in Ihrer Rolle als Richter beeinflussen.
Nein, Schiedsrichter werden häufig als prostaatlich oder prounternehmerisch etikettiert. Das ist nicht korrekt. Als Schiedsrichter denken Sie jedoch anders als ein Anwalt, der gewinnen will: Sie nutzen als Schiedsrichter Ihren Intellekt, um anhand vorliegender Fakten Entscheide zu fällen.
Investitionsschiedsverfahren gelten als intransparent: Die Verhandlungen finden zumeist hinter verschlossenen Türen statt, die Steuerzahler der verurteilten Staaten erfahren nur die Höhe der Busse.
Es gab in den letzten eineinhalb Jahrzehnten viele Verbesserungen …
Diese gehen aber nicht sehr weit.
Die Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht, Uncitral, hat 2013 neue Transparenzvorschriften in ihren Verfahrensregeln für Investitionsschiedsverfahren aufgenommen. Es ist nun an den einzelnen Staaten, die entsprechende Mauritius-Konvention zu unterzeichnen. Nehmen Sie den Vattenfall-Prozess: Die Verhandlungen werden per Video übertragen, und viele Unterlagen sind online.
Die Anklageschriften sind unter Verschluss. Per Video wurden lediglich die Eröffnungs- und Schlussplädoyers übertragen, die ohne schriftliche Unterlagen schwer verständlich sind.
Ich kann Ihnen sagen, dass Sie die schriftlichen Unterlagen nicht lesen möchten, sie sind lang und komplex.
Das Urteil wird kaum öffentlich sein …
Darauf müssen sich die Parteien noch einigen.
Der Widerstand gegen Investorenklagen wächst. Falls Deutschland Vattenfall 4,7 Milliarden Euro zahlen muss, wird das System nur noch schwer aufrechtzuerhalten sein.
Politisch gesehen ist das vielleicht richtig. Die deutsche Debatte über Investitionsschiedsverfahren ist jedoch teilweise unbegreiflich: Deutschland hat 1959 mit Pakistan das erste Investitionsschutzabkommen überhaupt unterzeichnet, kaum ein anderes Land hat so viele solche Abkommen wie Deutschland. Und nun, da die Deutschen selber auf der Anklagebank sitzen, finden sie das auf einmal alles unfair.
Solange nur westliche Konzerne gegen Entwicklungsländer klagten, sagte hier kaum jemand etwas. Doch nun schlägt das eigene System zurück …
Ja. In Deutschland scheinen gewisse Protestgruppen nicht bereit, die Konsequenzen der Abkommen zu tragen, die das Land selbst unterzeichnet hat: das Risiko, dass Deutschland angeklagt wird. An einem Tag ist man Kläger, am nächsten Tag sitzt man selber auf der Anklagebank – so ist das nun mal.
Die Abkommen wurden auf Druck der Unternehmer unterzeichnet. Der jetzige Protest kommt dagegen von kritischen Politikern und der Öffentlichkeit.
Den Politikern das Feld zu überlassen, ist aber gefährlich. Entweder sind sie nicht imstande, das System zu verstehen, oder sie wollen nicht.
Man kann das System verstehen und trotzdem zum Schluss kommen, dass es reformiert oder gar abgeschafft werden muss – jüngst haben etliche Staaten Verträge gekündigt. Das ist Demokratie …
Selbstverständlich begreife ich, dass das, was ich sage, auch eine politische Dimension hat. Wenn es in einem Staat eine Mehrheit gibt, die die Verträge kündigen will, dann sollen sie das tun und schauen, wie sich das auswirkt. Solange das nicht geschieht, gelten sie.
Umstrittene Investorenklagen
Neben dem Vattenfall-Prozess gibt es viele weitere umstrittene Investorenklagen. Drei Beispiele:
Arbeitsrecht: Der französische Konzern Veolia, der in Alexandria Abfall entsorgt, hat Ägypten 2012 auf 110 Millionen US-Dollar verklagt, weil die Regierung unter anderem den Mindestlohn erhöht hat. Das Urteil ist hängig.
Umwelt: Der US-Konzern Chevron hat 2009 Ecuador verklagt, weil die Gerichte den Konzern zu einer Milliardenzahlung verurteilt hatten, nachdem er jahrelang Unmengen toxisches Wasser in den Amazonas geleitet hatte. Chevron will, dass Ecuador selbst für den Schaden aufkommt. Das Urteil ist hängig.
Finanzstabilität: Der US-Konzern CMS, der in Argentinien Gas verkauft, klagte 2001 gegen die Regierung, weil sie den Peso abgewertet hatte, um die damalige Wirtschaftskrise zu bekämpfen, jedoch keine Tariferhöhung erlaubt hatte. Der Staat musste 133 Millionen US-Dollar zahlen.