Pressepoesie: Heimliche Lyrik
Viel ist in diesem Jahr über die sinkende Qualität im Journalismus geklagt worden. Der Psychiater Mario Gmür legt nun aber eine Studie vor, die zuversichtlich stimmt.
Faktentreue, Leserfreundlichkeit, analytische Schärfe sind Faktoren, anhand derer journalistische Texte bewertet werden. Der Psychiater Mario Gmür hat nun ein weiteres, bislang unterschätztes Qualitätsmerkmal diagnostiziert: Bei seiner Lektüre der NZZ, des «Tages-Anzeigers» sowie der «NZZ am Sonntag» offenbarte sich ihm an gewissen Stellen, wie er sagt, «eine Art von poésie automatique». Worauf er damit begann, jeden Tag nach Passagen zu suchen, die es in sich hatten, «ein Gedicht zu werden».
Mit kongenialer Empfindsamkeit befreite Gmür ausgewählte Passagen aus dem prosaischen Kontext, um ihre schlummernden lyrischen Qualitäten zur Entfaltung zu bringen. Gmürs Methode: Er versetzte die jeweilige Passage durch geeignete Zeilensprünge in einen vertikalen Verlauf, versah sie mit einem poesiegerechten Titel, eliminierte die Interpunktion und führte konsequent Kleinschreibung ein.
Die Beute, die er in einem Jahr – zwischen dem 30. März 2014 und dem 2. April 2015 – machte, ist erstaunlich: 236 Gedichte konnte er so aus ebenso vielen Artikeln herausdestillieren und mehr als 200 JournalistInnen «heimlich in die Galerie der Dichtkunst» heben, so Gmür. Darunter finden sich Kostbarkeiten, die auch in einer offiziellen Lyrikanthologie stehen könnten. Das zeigt schon das erste Beispiel, «an bord», herausgefischt aus einem Text von Michael Furger, aus der «NZZ am Sonntag»:
ob die passagiere
an bord miterlebten
wie ihre maschine
niederging oder
ob sie zu diesem zeitpunkt
bewusstlos
oder schon tot waren
weiss man nicht
Allein an diesem Exempel zeigt sich, wie mit dieser Methode aus einer Tagesaktualität zeitlos anmutende Gültigkeit werden kann. Welch luzide Untergründigkeit, die sich, befreit aus der nüchternen Prosa, in diesen Zeilen auftut!
Dass dergestalt selbst ein aus Gründen der Justiziabilität und des Quellenschutzes zur Schablone gewordener Satz lyrischen Atem hauchen kann, offenbart sich in einer unter dem Titel «namen» gesetzten Passage, die einem Text von Christian Brönnimann im «Tages-Anzeiger» entnommen wurde:
die namen sind
der redaktion bekannt
es gilt
die unschuldsvermutung
Auffallend ist, wie oft Sätzen, in denen vom gesellschaftlichen Wandel die Rede ist, lyrische Flügel wachsen können, sobald sie nach Gmürs Methode bearbeitet worden sind. So geschehen in «früher», gekeltert aus einem Text von Jörg Krummenacher in der NZZ:
heute heisst
der hügel nördlich
des ortskerns von glarus
sonnenhügel
wo einst die richtstätte war
ist jetzt ein parkplatz
auf dem areal
des kantonsspitals
Kaum überraschen dürfte, dass gerade die Sportberichterstattung immer wieder lyrische Ansätze bereithält. So lautet ein Ausschnitt einem Text von Ruth Spitzenpfeil aus der NZZ, von Gmür unter dem Titel «adieu» verewigt:
sarah meier
sagt dem eislauf
adieu
die lücke im spitzensport
zu schliessen braucht
zeit
der nachwuchs lässt
hoffen
Je mehr Beispiele man sich zu Gemüte führt, desto mehr wird einem ein weiterer Mechanismus bewusst, der durch die Aussetzung und gezielte Zeilenschaltung in Gang kommt: die Produktion von Bedeutungsschwere – dort, wo sie im ursprünglichen Text zuweilen verloren gegangen oder gar nicht erst aufgekommen ist. Das lässt sich vorzugsweise in Passagen lesen, die aus Texten gerettet wurden, die sich mit Lifestyle beschäftigen. Unverhofft erhält eine wohlstandsgesellschaftliche Banalität – wie etwa in «bauch», gewonnen aus einem Text von Bettina Weber aus dem «Tages-Anzeiger» – existenzialphilosophische Tragweite:
ein bauch lässt sich
bis zu einem gewissen grad
kaschieren
wenn das hemd darüber fällt
Bleibt die Frage, ob sich hinter dem akkuraten Lob der lyrischen Qualität im zeitgenössischen Journalismus nicht auch leise Kritik an der zeitgenössischen Lyrik verbirgt.
Mario Gmür: Zitatgedichte. Vertikalprosa. Mit einem Vorwort von Klaus Merz. Edition Howeg. Zürich 2017. 175 Seiten. 28 Franken