Strafvollzug und Arbeitswelt: Drei Diplome im Gepäck, aber auch ein Stigma

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Die Geschichte von Willi Blaser zeigt, dass Strafentlassene – selbst wenn sie unterstützt werden – im ersten Arbeitsmarkt wenig Chancen haben. Ein Pilotprojekt vermittelt erstmals aktiv zwischen Gefangenschaft und Erwerbsarbeit.

Raus aus dem Gefängnis, rein ins Arbeitsleben? Justizvollzugsanstalt Pöschwies in Regensdorf. Foto: Andreas Bodmer

Im September 2013, an einem trüben, empfindlich kühlen Sonntagnachmittag, wurde Willi Blaser* aus der Haft entlassen. Er war frisch rasiert und 46 Jahre alt. Nun stand er vor dem Tor der Strafanstalt Pöschwies im zürcherischen Regensdorf, der grössten Justizvollzugsanstalt der Schweiz. Er hatte kaum Bekannte, nur eine temporäre Unterkunft – und keinen Job.

Willi Blaser war vor der Haft im globalen Drogenhandel tätig gewesen, spezialisiert auf Kokain und Crystal Meth. Und selber «schwer abhängig». Zweimal erwischte ihn die Polizei mit mehreren Kilo Rauschgift. Er sei «von Kollegen verpfiffen» worden, sagt er. Beim zweiten Mal forderte der Staatsanwalt acht Jahre. Die Richter machten zwei daraus. Sie hielten Milde für angemessen, weil sie Kindheit und Jugendjahre ins Urteil miteinbezogen. Mit neun war Willi Blaser zum ersten Mal in einem katholischen Kinderheim, «der pure Horror». Betreuer prügelten auf ihn ein und missbrauchten ihn sexuell. Das führte zu posttraumatischen Störungen. Im Alter von 22 Jahren verliess er die Heimstation «für zivil- und strafrechtlich eingewiesene Jugendliche» im St. Gallerland. Dort schloss er die erste Lehre als Werkzeugmacher ab. Zwei weitere Diplome folgten: Handelsschule und technischer Kaufmann.

Drogenfrei und motiviert

Weil er «eine gute Anwältin» hatte und die nötigen Kriterien erfüllte, wurde er vorzeitig auf Bewährung aus der Pöschwies entlassen. Er hatte sich bestens in die sogenannte Bastelgruppe integriert, die Kardwolle filzte, er hatte den ambulanten Drogenentzug abgeschlossen und ging regelmässig zur Therapie. Ein Zimmer im Wohnangebot der Zürcher Stiftung für Gefangenen- und Entlassenenfürsorge (ZSGE) war zugesichert. An Arbeit konnte er jedoch nicht denken. Im geschlossenen Vollzug gab es kein Internet und deshalb kaum Bewerbungsmöglichkeiten. Der Aussenkontakt beschränkte sich auf seltene Besuche und das Münztelefon. Hätte er sich persönlich vorstellen können, wäre ein «Sachurlaub» genehmigt worden. «Es ist fast aussichtslos, aus dem Gefängnis eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt zu finden», sagt Willi Blaser.

Dabei wäre gerade das besonders wichtig. So hat etwa 2015 eine Studie in Nordrhein-Westfalen ergeben: Neunzig Prozent der Entlassenen, die keine Arbeit fanden, wurden nach wenigen Monaten wieder straffällig. Von jenen, die einen Job hatten, beging nur jeder Dritte ein Delikt – meist Kleinstvergehen.

Wieder in Freiheit, ging Willi Blaser zum Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum. Doch das RAV verweigerte die Unterstützung, obwohl es gesetzlich dazu verpflichtet gewesen wäre. Die Behörde musste auf juristischem Weg zur Nachzahlung gezwungen werden. Danach erhielt Blaser «wirtschaftliche Sozialhilfe» und eine «Integrationszulage» vom Sozialamt. Den Bewährungshelfer traf er jeden Monat, den Therapeuten regelmässig, den Sozialbetreuer wöchentlich, und jeden Dienstagabend nahm er am Gemeinschaftsessen der Wohngruppe ZSGE-Waffenplatz teil. Diverse Integrationsprogramme strukturierten seinen Tagesablauf. In der Recyclingwerkstatt zerlegte er alte Handys. «Ich war drogenfrei, gesund und motiviert für den ersten Arbeitsmarkt», sagt er. Er dachte, dass seine drei Diplome hilfreich seien. Aber er blieb in der sozial betreuten Welt.

Rund 350 tadellose Dossiers hatte Willi Blaser abgeschickt, die er im Kurs «Bewerbungsstrategie» der Stiftung Stellennetz geschrieben hatte. Es ergab sich kein Gespräch. Mit den Bezugspersonen übte er Bewerbungsgespräche bis spät in die Nacht. Das Dilemma war, welche Strategie die bessere ist: mit offenen Karten spielen oder die Vergangenheit kaschieren? Er selber neigte zur zweiten Variante – denn selbst mit einem optimierten Auftritt wäre das Stigma des Exhäftlings kaum loszuwerden.

Eintritt in die Normalität

Daniel Roth, stellvertretender Geschäftsführer der Wohngruppe ZSGE-Waffenplatz, kennt einige Firmen, die Strafentlassene im ersten Arbeitsmarkt beschäftigen würden. Der Pool sei klein und verändere sich permanent. Die Erfahrung zeige auch, dass die Hürde höher sei und die Toleranz geringer: «Beim kleinsten Vorfall steigt der Arbeitgeber wieder aus.» Das bestätigt der CEO einer Firma, die manchmal Exgefangene beschäftigt: «Es gibt in der Regel nur eine Chance.» Deshalb begrüsse er eine professionelle Instanz, die Brückenfunktionen übernehme. Sie könne verhindern, dass ein Dossier sofort im Abfall lande – sowie bei einem Erstgespräch die Befangenheit vermindern und die Akzeptanz erhöhen.

Erstaunlich ist, dass in der Sozialhilfe ein solches Angebot bisher fehlte – bis im Sommer dieses Jahres, als der Verein Team 72 in Zürich Oerlikon das Pilotprojekt «time2work» startete. Es bietet Strafentlassenen und InsassInnen erstmals in der Schweiz spezialisierte Unterstützung bei der Arbeitssuche an. Die «Anschubfinanzierung» kommt von der katholischen Kirche des Kantons Zürich, mittelfristig soll das Projekt selbsttragend sein. «Wir vermitteln zwischen Vollzug und Arbeitswelt. Neu ist, dass wir bei den Unternehmen vor Ort die Türen öffnen», sagt Claudio Carletti, Leiter des Projekts. Er testet nun, ob «der freie Arbeitsmarkt ein solches Angebot akzeptiert». Auch wenn die Wohngemeinden die Kosten übernehmen müssen: Justiz- und Sozialbehörden sind froh darum. Eine grobe Rechnung zeigt, dass die Ämter bei erfolgreicher Vermittlung finanziell massiv entlastet werden.

Als Daniel Roth vom Projekt erfuhr, kontaktierte er «time2work»: «Ich habe einen Bewohner, der arbeiten will, aber nichts findet.» Willi Blaser setzte ein Motivationsschreiben auf und sprach bei Carletti vor. Der Personalberater machte eine Grundabklärung. Nachdem ihm zunächst der «Rucksack» des Bewerbers als zu grosses Hindernis erschienen sei, habe ihn dessen «unbedingte Motivation» überzeugt. Er beantragte beim Justizvollzug des Kantons, die Kosten für die Vermittlungsdienste zu übernehmen. Das Gesuch wurde rasch und umstandslos gewährt. Carletti aktivierte sein Netzwerk. «Das Potenzial von ehemaligen Insassen wird gewaltig unterschätzt», sagt er. Acht Bewerber hat er bisher platzieren können.

Seit zwei Monaten arbeitet Willi Blaser nun als «Total Quality Manager» in der Lebensmittelbranche: «Der Vorteil beim Bewerbungsgespräch war, dass ich die Vergangenheit nicht erst erklären musste», sagt er. «Ich konnte mich voll darauf konzentrieren, den CEO und die Personalchefin von meinen Fähigkeiten zu überzeugen.» Nun ist er in der Probezeit und organisiert fünf Tage in der Woche die Kontrolle verderblicher Nahrungsmittel. Die Arbeit ist härter als zuvor und völlig eigenständig. Aber zum ersten Mal seit Jahren wird er am Arbeitsort nicht sozial betreut: «Sie kennen meine Geschichte nicht. Es ist eine andere Welt. Man wird akzeptiert, für vollwertig angeschaut und ganz normal behandelt.» In den kommenden Monaten will er den Übertritt vom «sozial betreuten zum eigenständigen Wesen» schaffen. Willi Blaser ist bei unserem Gespräch nicht frisch rasiert, aber er schaut sehr zufrieden aus.

* Name von der Redaktion geändert.